II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 4), Literatur, Seite 59

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16.4. Literatur
Husschnitt aus: Fremdenblatt, Wien
vom: F9
Seite 35
1. Februar 1914
Fremnden-Slatt.
Wien, Sonntag
Nr. 52
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Feuilleton-Beilage.
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Reibung. Dieser Kammersänger ist kein Halbgott, wie aufgeregte
Burglheater.
Frauenherzen glauben, kein Priester der Kunst, kein Sängerfürst mit
erhabenen Gesühlen. Er ist ein Luxusartikel auf dem internationalen
(„Der Kammersänger“, drei Szenen von Frank Wedekind. —
Markt. Ein Wertgegenstand für die wohlhabenden Leute in Europa
„Boubouroche". Tragische Posse in zwei Akten von Georges Courteline.
und Amerika. Er ist einem Unternehmer verpflichtet, der ihn überall
Uebersetzt von Siegfried Trebitsch. — „Literatur", Lustspiel is einem
umhersendet, um Kapital aus ihm zu schlagen. Er arbeitet in der
1er. — Zum erstenmal am 31. Jänner 1914.)
Akt von Artur Schui
Seten mt nk
Frohnde seines Kontrakts, für das viele Geld, das in ihm in¬
Von Felix Salten.
vestiert wurde, für sich, für seine alten Tage und für drei Dutzend
Gerardo, der berühmte Kammersänger, hat morgen abends in
Operndirektoren, die mit Hilfe seiner von ihnen gemieteten Stimme ein
Brüssel den Tristan zu singen. Kontraktliche Verpflichtung! Er hat
Geschäft machen wollen. Daß er in all den Mädchen und Frauen,
jetzt hier in Berlin (oder wo das Stück sonst spielen mag) eine Woche
die ihm als Tannhäuser oder Tristan hören, mancherlei Sehnsucht
lang gesungen. Kontraktliche Verpflichtung. Die ist nun erfüllt. Die
weckt, das weiß er. Aber er kann nichts dafür. Er stellt sich auch als
Koffer stehen gepackt. Morgen abends also Brüssel. Und dann weiter.
Tannhäuser oder Tristan nicht deshalb so edel, weil er die Frauen
Immer weiter. Der Manager, der solch eine Künstlerreise komponiert,
und Mädchen berücken will, sondern weil diese Rollen es verlangen,
muß ein klug berechnender Kopf sein und Erfahrungen haben. Alles
daß er sich edel stellt. Daß er die hundertfache Sehnsucht, die er wach¬
ist in Bedacht genommen. Die Gastspiele sind so gelegt, daß nutzlose
gerufen hat, auch selber stillen müsse, kann kein Mensch von ihm ver¬
Strecken vermieden werden. Von Berlin nach Brüssel, von Brüssel
langen. Es geht über seine Kraft. Er ist nicht dazu verpflichtet. Er.
nach Paris, von Paris nach Monte Carlo, von da nach Mailand.
war früher Tapezierergehilse. Eine starke, bürgerliche Anständigkeit des
Und so fort. Der Kammersänger kann schon im August, wenn alle
Denkens ist ihm geblieben. Das Geschäft, das er jetzt betreibt, kann
Abschlüsse fertig sind, genau vorhersagen, wo er am 12. Dezember oder
er als Geschäft sehr gut begreifen. Vor dem Geschäft hat er Achtung.
am 26. März sein wird. Alles ist vorgesehen, auch einzelne Ruhe¬
Das möchte er den Frauen und Mädchen, die ihn umschwärmen, so
tage, da und dort. Und jeder Zug, der benützt wird. Hauptsache
gern erklären. Aber sie verstehen ihn nicht. Und in diesem Mißver¬
bleibt, daß die Sache klapp., daß kein Anschluß versäumt wird. Kein
ständnis steckt eine Komik, die Wedekind so voll herausholt, die er so
einziger. Wenn der Faden, der da abgehaspelt werden oll, an einem
stark emportreibt, daß selbst der Selbstmord auf offenev Szene, der
einzigen Punkt in Verwirrung gerät, dann ist die ganze, sorgsam
losknallende Revolver und die maustot hinstürzende Frau noch
kombinierte Sache zunichte gemacht. Es gibt einfach eine Katastrophe.
umwittert erscheinen von einer unentrinnbaren Komik. Reizvoll und
Kein Wunder, wenn man bedenkt, wieviele Interessen da auf dem
kühn an diesem Stück bleibt es, daß in der Weltanschauung, aus der
Spiel stehen, wieviele große Operninstitute ihren ganzen Apparat auf
es entstand, sowohl Großartigkeit als Pathos sich bergen. Nur daß
die vereinbarten Abende eingestellt haben. Der Sänger, der sich als
beides immer anderswo, gleichsam in einem anderen Rhythmus betont
ein unzuverlässiger Kunde zeigen wollte, wäre verloren. Kein Impresariv
ist. Und daß die landläufige Großartigkeit, die landläufige Pathetik
würde es zum zweiten Male mit ihm wagen wollen. Er hätte einfach
dagegen überall, wo sie in solcher Musik hörbar werden, einfach
seine Existenz ruiniert. Künstlerlaunen ... die gibt es nicht in solchen
lächerlich wirken.
Dingen. Die können auf der Probe, im Verkehr mit den Interviewern,
Herr Reimers spielt den Kammersänger besser als die meisten
in Gesellschaft losgelassen werden. Hier heißt es, hübsch fleißig an der
seiner Vorgänger ihn gespielt haben. Er gibt einen wirklichen Menschen,
Stange bleiben. Geschäft ist Geschäft. Deshalb hat der Kammersänger
er läßt die persönliche Rechtschaffenheit des Kammersängers merken, er
auch nur einen einzigen Gedanken: er muß morgen abends in Brüssel
zeigt hie und da den früheren Tapezierergehilfen. Er grundiert das
den Tristan singen. Daß ihn enthusiastische Mädchen in seinem Hotelzimmer
Wesen des Kammersängers gleichsam mit der soliden, geschäftstüchtigen,
überfallen, gilt ihm bloßals Zeitverlust. Daßihm die Postkurz vor seiner Abreise
ehrlich einfachen Natur des Handwerksburschen. Und es ist sehr fein,
noch hundert Liebesbriefe ins Haus trägt, daß Champagnerkörbe
wie er die vielen kleinen Mätzchen des routinierten Opernstars über
gebracht werden, ganze Berge von Blumen, daß ein alter Komponist
diesen gesunden Menschen hingleiten läßt. Als Unwillkürlichkeiten. Es
ihm durchaus seine Oper vorspielen möchte — Zeitverlust. Und daß
ist wie Kulissenstaub, der sich im Lauf der Jahre in die Kleider gelegt
die Frau, die sich ihm hier, während der kurzen acht Tage, an den
hat. Sehr sein, wie er auch sein eigenes Wesen dabei hütet. Wie dieser
Hals geworfen hat, jetzt in Liebesraserei verlangt, er soll sie mit
Kammersänger nichts von sich selbst hergeben will, wie er alle Zugänge
nach Brüssel nehmen — Zeitverlust! In jeder Stadt wirft sich ihm
zu seinem Innern verschlossen hält. Die eine Stelle: „Dann habe ich
irgend eine Frau an den Hals, und obwohl er nun schon zu jeder
freilich das Leben in vollen Zügen genossen", läßt er zum Beispiel
ganz aufrichtig vorher sagt: „Von Gefühlen kann zwischen uns nicht die
ganz fallen. Er sagt das mehr zu sich als zu der Frau, die ihn be¬
Rede sein“, fällt jede, wenn's an's Scheiden geht, in Raserei. Jede
stürmt. Er gibt acht, daß er nichts von seinem wirklichen Empfinden
möchte mitgenommen werden. Jede möchte bei ihm bleiben und mit
an diese Figürchen, die ihn flüchtig umtanzen, verstreut. So bleibt der
ihm reisen bis aus Ende der Welt. Er kennt das. Diese da tobt
Kammersänger des Herrn Reimers denn auch die einzige Gestalt in
und droht, sie werde sich töten. Er hat nicht einmal die Geduld, sie
der Komödie, mit der man menschliche Teilnahme hat, Freilich ist die
aufmerksam anzuhören. Er hat andere Dinge im Kopf. Seinen Kontrakt,
leidenschaftliche Frau gerade in diesem Betracht sehr gut gegen die
seine Pflicht und sein Geschäft. Und in einer halben Stunde geht der
Gestalt des Kammersängers abgestimmt. Frau Kallina trifft es,
Zug! Die Frau erschießt sich wirklich. Sie stürzt zu Boden. Donner¬
Verzweiflung, Liebesnot, Raserei zu spielen und doch dabei ganz leicht,
wetter! Der Kammersänger hat nur einen einzigen Gedanken: der
fast gewichtlos zu bleiben. Sie trifft das, ohne den Charakter der
Zwischenfall darf ihn nicht kontraktbrüchig machen. Wenn er sofort
Rolle im Stich zu lassen oder ihn (was sehr billig wäre) zu paro¬
verhaftet wird, dann ist das force majeure. Also rasch einen Schutz¬
dieren. Herr Straßni als alter Komponist war diesmal zu be¬
mann holen lassen. Und einen Arzt. Ach ja, natürlich ... auch einen
weglich, zu fahrig im Spiel, zu sehr auf Komik und zu wenig auf
Arzt
die Gestaltung eines Schicksals bedacht. Fräulein Leschka ist doch
Als diese Komödie vor fünfzehn oder sechzehn Jahren zum
noch nicht geschickt genug, um einer so knappen Episode wie der Eng¬
— es war in der Josefstadt und
erstenmal in Wien gespielt wurde
länderin mit ein paar Strichen Leben und Wirkung zu geben.
ein Berliner Ensemble gastierte — hatte dieser Humor einen neuartig
Die breite Mitte des Abends nahm der gute Boubouroche von
schrillen Klang. Er war herb und messerscharf. Wie sich das Ohr
Georges Courteline ein. Boubouroche, der dicke Spießbürger, der brave
heute den neuen Harmonien der modernen Musik noch verweigert, so
Kerl, das weiche Herz, den alle Welt ausnützt, den alle Welt betrügt.
weiaerte man sich damals dieser spöttischen Lustigkeit. Sie entzauberte,
Ain mandemt bose tein kann.