16.4. Literatur
box 22/3
hnitt aus: z J.
1914
WIENER ABENDPOS7
*
gefeierte Tenor setzt sich mit einem kleinen Gäuschen,
das ihm in vergötternder Bewunderung aufgelauert,
einem hochbetagten Komponisten, der sich von ihm den
großen Erfolg seines Lebens erbetteln will, dem
hysterischen Weibe, das seine Eintagsliebe vergebens
zur großen Leidenschaft anzufachen sucht und darüber
sich selbst zum überflüssigen Opfer bringt, auseinander.
Jede der drei Gestalten gibt ihm Gelegenheit, sich
völlig auszusprechen: über Kunst und Geschäft, Pflicht
und Beruf, Liebe und Sinnengenuß, Ehe und freies
Verhältnis — man möchte fast das Wort aus dem
dritten Stücke der „Literatur“ Schnitzlers heranziehen
und sagen: das Stück „enthält sozusagen das meiste,
was über das meiste zu sagen ist". Und an dieser
Hypertrophie des Wortes krankt das Werk, das,
dramatisch gedacht, nicht arm an theatralischen Ein¬
fällen, sprühend von Geist, schließlich doch mehr einem
der Charakterbilder Theophrasts oder La Bruyères¬
gleicht als einem bühnenrichtigen Organismus. „Der
Kammersänger“ wäre ungeheuer amüsant, wenn er
nicht so langweilig wäre. Das scheint ein Paradoxon
aber Wedekind gegenüber darf wohl auch der Kritiker
sich eines solchen schuldig machen. Will das Theater
sich das Stück erhalten, so muß es den Mut haben,
den Protest des Dichters „gegen jeden, auch den ge¬
ringsten Strich“ zu ignorieren und seinem ironischen
Motto, das er der Buchausgabe vorangesetzt: „Je
länger die Striche, desto größer die Schauspielkunst!“
Trotz zu bieten. Denn gerade der Schauspielkunst bereitet
ein derartiges restloses Durchsprechen jeder Situation
das schwerste Hindernis, da sie nichts aus Eigenem
hinzuzutun vermag. So erklärt sich, um wie viel besser
sich das kleine Werk liest als ansieht. Und das wäre
vielleicht auch dann der Fall, wenn eine zwingende
Individualität für den Kammersänger, die alle die
Eigenschaften hätte, die Wedekind für ihn fordert:
„Tempo, Leidenschaftlichkeit und Intelligenz", zur
Verfügung stünde. Denn diese Figur ist von so
vielen Seiten geschaut, daß sie den Darsteller
zu den vom Verfasser bitter beklagten Ausschreitungen
verleitet. Im Grund eine jener echt Wedekindschen
prachtvollen Bestien, die, hier durch äußerliche
scheinbare und wirkiche Bande gefesselt, ihren
rücksichtslosen Egoismus schwächeren Geschöpfen
gegenüber ungehemmten Lauf läßt, ist sie nicht
frei von kleinlichsten Eitelkeiten, Komödianten=Mätzchen,
und Komödianten=Phrasen. Wer die in den Vorder¬
grund stellt, kommt natürlich dahin, aus dem tief und
ernst gedachten Werk eine Hanswurstiade zu machen,
Kraft in Albernheit, Intelligenz in Dummheit zu
wandeln. Das tat Herr Reimers nicht, und die
ruhige Einfachheit, in der er sich auch in dieser so
komplizierten Rolle nicht beirren ließ, ist ein ent¬
schiedenes Verdienst. Doch sein fast an Gleichgültigkeit
streifendes Phlegma, die unpersönliche Art seiner Rede und
Gebärde verwischen der Figur jedes eigenartige Gepräge
und machen sie uninteressant. Ahnlich wurde auch
Herr Straßni als Professor Dühring ein Opfer
der Wedekindschen Wortflut, die ihn mit sich fort¬
riß und begrub. Wie hübsch und charakteristisch
hatte er die Rolle angelegt, aber je mehr er
zu reden hatte, desto dünner und fadenscheiniger wurde
die Gestalt. Frau Kallina brachte die schwierigen
ekstatischen Ausdrücke Helenens mit größter Sicher¬
heit zum Ausdruck; aus der kleinen Engländerin läßt
sich weit mehr Drolerie herausholen, als Frl. Leschka
gegeben ist. Das Tempo der Aufführung schien
schleppend, aber ich meine, es ist das Tempo des
Stückes selbst, das jede Beschleunigung erschwert. Es
ist so eine Art Hintertürchen, durch das Wedekind ins
Burgtheater geschlüpft ist; nun er einmal drinnen,
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hnitt aus: z J.
1914
WIENER ABENDPOS7
*
gefeierte Tenor setzt sich mit einem kleinen Gäuschen,
das ihm in vergötternder Bewunderung aufgelauert,
einem hochbetagten Komponisten, der sich von ihm den
großen Erfolg seines Lebens erbetteln will, dem
hysterischen Weibe, das seine Eintagsliebe vergebens
zur großen Leidenschaft anzufachen sucht und darüber
sich selbst zum überflüssigen Opfer bringt, auseinander.
Jede der drei Gestalten gibt ihm Gelegenheit, sich
völlig auszusprechen: über Kunst und Geschäft, Pflicht
und Beruf, Liebe und Sinnengenuß, Ehe und freies
Verhältnis — man möchte fast das Wort aus dem
dritten Stücke der „Literatur“ Schnitzlers heranziehen
und sagen: das Stück „enthält sozusagen das meiste,
was über das meiste zu sagen ist". Und an dieser
Hypertrophie des Wortes krankt das Werk, das,
dramatisch gedacht, nicht arm an theatralischen Ein¬
fällen, sprühend von Geist, schließlich doch mehr einem
der Charakterbilder Theophrasts oder La Bruyères¬
gleicht als einem bühnenrichtigen Organismus. „Der
Kammersänger“ wäre ungeheuer amüsant, wenn er
nicht so langweilig wäre. Das scheint ein Paradoxon
aber Wedekind gegenüber darf wohl auch der Kritiker
sich eines solchen schuldig machen. Will das Theater
sich das Stück erhalten, so muß es den Mut haben,
den Protest des Dichters „gegen jeden, auch den ge¬
ringsten Strich“ zu ignorieren und seinem ironischen
Motto, das er der Buchausgabe vorangesetzt: „Je
länger die Striche, desto größer die Schauspielkunst!“
Trotz zu bieten. Denn gerade der Schauspielkunst bereitet
ein derartiges restloses Durchsprechen jeder Situation
das schwerste Hindernis, da sie nichts aus Eigenem
hinzuzutun vermag. So erklärt sich, um wie viel besser
sich das kleine Werk liest als ansieht. Und das wäre
vielleicht auch dann der Fall, wenn eine zwingende
Individualität für den Kammersänger, die alle die
Eigenschaften hätte, die Wedekind für ihn fordert:
„Tempo, Leidenschaftlichkeit und Intelligenz", zur
Verfügung stünde. Denn diese Figur ist von so
vielen Seiten geschaut, daß sie den Darsteller
zu den vom Verfasser bitter beklagten Ausschreitungen
verleitet. Im Grund eine jener echt Wedekindschen
prachtvollen Bestien, die, hier durch äußerliche
scheinbare und wirkiche Bande gefesselt, ihren
rücksichtslosen Egoismus schwächeren Geschöpfen
gegenüber ungehemmten Lauf läßt, ist sie nicht
frei von kleinlichsten Eitelkeiten, Komödianten=Mätzchen,
und Komödianten=Phrasen. Wer die in den Vorder¬
grund stellt, kommt natürlich dahin, aus dem tief und
ernst gedachten Werk eine Hanswurstiade zu machen,
Kraft in Albernheit, Intelligenz in Dummheit zu
wandeln. Das tat Herr Reimers nicht, und die
ruhige Einfachheit, in der er sich auch in dieser so
komplizierten Rolle nicht beirren ließ, ist ein ent¬
schiedenes Verdienst. Doch sein fast an Gleichgültigkeit
streifendes Phlegma, die unpersönliche Art seiner Rede und
Gebärde verwischen der Figur jedes eigenartige Gepräge
und machen sie uninteressant. Ahnlich wurde auch
Herr Straßni als Professor Dühring ein Opfer
der Wedekindschen Wortflut, die ihn mit sich fort¬
riß und begrub. Wie hübsch und charakteristisch
hatte er die Rolle angelegt, aber je mehr er
zu reden hatte, desto dünner und fadenscheiniger wurde
die Gestalt. Frau Kallina brachte die schwierigen
ekstatischen Ausdrücke Helenens mit größter Sicher¬
heit zum Ausdruck; aus der kleinen Engländerin läßt
sich weit mehr Drolerie herausholen, als Frl. Leschka
gegeben ist. Das Tempo der Aufführung schien
schleppend, aber ich meine, es ist das Tempo des
Stückes selbst, das jede Beschleunigung erschwert. Es
ist so eine Art Hintertürchen, durch das Wedekind ins
Burgtheater geschlüpft ist; nun er einmal drinnen,