II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 4), Literatur, Seite 111

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16.4. Literatur
geleitet, die Weisungen der heiligen Schrift wörtlich zu
befolgen; zweitens an einem würdigen Philisterpaar,
das den Beruf in sich fühlt, dem reichen Jüngling mit
Rat und Wohlwollen zur Seite zu stehen und sich für
diese besondere Form von Nächstenliebe an der Börse
ihres Schützlings schadlos hält. Der Dritte im Bunde
ist ein Vertreter der Kirche, der die Philanthropie unter
dem Gesichtswinkel der neueren, liberal=fortschrittlichen
Richtung betrachtet. Zwischen diesen drei Hauptparteien,
deren jede in ihrer Art das äußerste Extrem ihres
jeweiligen Standpunktes vertritt, hält die Tochter des
biederen Ehepaares — nebenbei bemerkt: die bestgelungene
Figur des ganzen Stückes — die Mitte, die sich zwar
nicht als Anhängerin der Philanthropie aufspielt, dafür
aber schließlich dem Prinzip der Nächstenliebe die einzig
zutreffende und nach des Autors Ansicht auch allein
aufrichtige Deutung giebt, indem sie sich in den Wohl¬
thäter ihrer Eltern verliebt, nachdem sie ihm über das
Wesen der „echten“, d. h. sittlich begründeten Nächsten¬
liebe einen heilsamen Sermon gehalten hat, der den
irrenden Jüngling denn auch glücklich von seiner kost¬
spieligen Liebhaberei kuriert.
Der Aufbau des Stückes ist ungewöhnlich fest —
fester sogar, als man es bei den vielfältigen Entwickelungs¬
möglichkeiten, zu denen der Vorwurf ungesucht hinführen
mußte, vielleicht hätte wünschen dürfen. Demgegenüber
läßt die künstlerische Dialogführung keinerlei Aus¬
stellungen zu.
Ein merkwürdiger Zufall hat es übrigens gefügt,
daß in demselben Augenblick, wo das heibergsche Stück
unter dem eisigen Stillschweigen des hauptstädtischen
Publikums dem Orkus überliefert wurde, eine andere,
satirisch angelegte Neuheit ausländischer Herkunft — des
Wieners Arthur Schnitzler liebenswürdig=humoristischer
mit ostentativen Beifalls¬
Einakter „Litteratur“ —
kundgebungen ausgenommen wurde. Schnitzlers Name
war in Norwegen bisher so gut wie unbekannt. Selbst
seine „Liebelei“ kannte man kaum dem Namen nach.
Mit dem heibergschen Stücke verglichen, kam dem neu¬
einstudierten Einakter allerdings der Umstand zu statten,
daß dieser mit seinen zahlreichen Ausfällen auf das
männliche und weibliche Quasi=Litteratentum unserer
Tage ein dem norwegischen Residenzpublikum — dank
der üppig slorierenden Caféhaus=Koterie und sonstigen
Boheme=Konventikel — besonders vertrautes Thema
anschlug.
Aus der Zeitschriften=Litteratur erwecken diesmal
ein paar beachtenswerte Artikel im „Kringsjaa“
Interesse. Hjalmar Christensen vertieft sich (XXI, 2) in
Dewegischer Brief.
KA
einer großzügig angelegten Studie in das Wesen von
unnar Heibergs mit einiger Spannung erwartetes
Knut Hamsuns Dichtung „Munken Vendt“ in deren
O neues Vriksstück „Nächstenliebe“ („Kaerlighed til
Wertschätzung er sich vorbehaltlos mit dem finischen
Naesten“) hut bei seiner Erstaufführung am 19. Februar
Litterarhistoriker Hagelstam einverstanden erklärt, der das
nur einen bedingten Erfolg gehabt. Der Première war
hamsunsche Buch als die „weitaus bedeutendste Er¬
eine kleine Coulissensensation vorausgegangen, die bei
scheinung der letzten Jahre im nordischen Litteratur¬
dem größeren Publikum offenbar die Erwartung hervor¬
Im gleichen Hefte findet
walde“ bezeichnet hatte.
gerufen hatte, daß der Autor diesmal mit besonders
sich eine von Richard Eriksen verfaßte Abhandlung über
prickelnden Indiskretionen aus dem norwegischen Residenz¬
Immanuel Kant, in der der Verfasser die Gestalt des
leben aufwarten werde. Diese Hoffnung sollte nin
Philosophen dem Verständnis des norwegischen Leser¬
allerdings nicht in Erfüllung gehen. Das neue „Volks¬
kreises näher zu rücken sucht. — „Urd“ bietet in Hest 4
stück“ enthält zwar gleich allen früheren Arbeiten des
eine längere Besprechung von Selma Lagerlöfs neuer
kaustisch veranlagten Verfassers — es sei nur an die
„Jerusalem“=Dichtung. Im Gegensatz zu der Mehrzahl
bekannte Gesellschaftssatire „Folkeraadet“ („Der Volks¬
unter den nordischen Kritikern stellt sich der Verfasser
rat“) erinnert — eine ganze Reihe von Anzüglichkeiten,
auf den Standpunkt, daß der zweite Teil des Romans
zu deren Verständnis eine große litterarische Lokalkenntnis
keinen unbedingten künstlerischen Fortschritt bedeute.
beim Zuschauer vorausgesetzt wird. Im ganzen genommen
„Jerusalem II ist nicht so einfach=schlicht in seiner Linien¬
ist der Ton des Stückes jedoch maßvoller als sonst. Das
führung, nicht so monumental wie der erste Teil.
Stück versicht die These, daß alle Nächstenliebe, mag sie
Wir können nicht ganz den Eindruck verwischen, daß
sich ein religiöses oder ein ethisches Mäntelchen um¬
die Verfasserin hier stärker idealisiert und das Ganze
hängen oder sich hinter dem durchsichtigen Schleier
der von ihr geschilderten Volksbewegung mit wohl¬
modischer Salonphilanthropie verbergen, im Grunde auf
wollenderen Augen betrachtet hat, als es sich mit dem
bewußten oder unbewußten Selbstbetrug, auf persönliche
Empfinden einer „voraussetzungslos verfahrenden Kritik
Eitelkeit oder egoistische Zwecke zurückzuführen sei.
vereinbaren läßt.“
Diese etwas anfechtbare These wird an vier Beispielen
Viggo Moe.
Christiania.
erläutert. Zunächst an der Naivetät eines reichen und
zugleich „wahrhaft guten" Jünglings, der seinen Mammon
mit vollen Händen ausstreut, lediglich von dem Bestreben