II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 68


1dient in den Annalen der Theater Wiens fett
sches Stück mit dem flotten Titel „Die hohe
Wiener Theaterbrief.
vermerkt zu werden. Es frägt sich nur, wie
Schule“ und einer furchtbar=originellen und
O. T. Es ist lebendig geworden in der
das Publicum Wiens über dieses Experiment
langwierigen Kategorisirung gebracht. Man
Wiener Theaterwelt. Scheint die Sonne noch
denkt. Wird es dem Wiedener Theater, in
höre: „Fünf Acte aus dem Leben eines Mäd¬
so schön, einmal muß man dennoch ins Theater
welchem allerdings einst „Die Zauberflöte“ zu¬
chens von Talent, Münchener Stück!“ So
gehen. Und die alten und neuen Herrschaften
erst ihre lieblichen Melodien hören ließ und
etwas war noch nicht da, obgleich unsere Au¬
in den verschiedenen Tempeln der Kunst laden
nachmals den Classikern volksthümlich gehuldigt
toren unmodern zu sein fürchten, wenn sie
so dringend und mit so verlockenden Ankündi¬
wurde, beschieden sein, zur ernsten Schaubühne
nach gutem alten Brauche ein deutliches „Schau¬
gungen zum Eintritt, daß man nicht fern blei¬
emporzuwachsen oder wird hinter den Coulissen
spiel, Trauerspiel oder Lustspiel“ schreiben.
ben kann. Allenthalben gibt es Ereignisse, groß
die verbannte „schöne Helena“ den rechten
Max Dreyer glaubt seiner „Großmama“ die
genug, um echte Theater=Menschen aufzuregen,
Augenblick erwarten, um in erneutem Glanze
präcisirende Bezeichnung „Jung=Gesellen¬
und mit Schreck entdecke ich an meiner unge¬
über die Bühne zu schweben? Man ist vorsichtig

Schwank“ geben zu müssen. Als ob „Schwank“
störten Seelenruhe, daß ich eigentlich gar kein
und behält die intime Verbrüderung mit dem
nicht genug wäre! „Junggesellenschwank“ klingt
echter Theatermensch mehr bin. Zum Beispiel:
Carltheater im Auge.
Für
Erleidet „Napoleon“
sogar verdächtig und erweckt bei den Theater¬
„Der Schleier der Beatrice!“ Welch' grimmen
100
eine unvorhergesehene Niederlage, so ist ein
Ronés Hoffnungen, die das grundanständige
200
Krieg zwischen wehrhaften Helden der Feder
anderer Theaterdespot, „Der Großmogul“, be¬
Stück nicht erfüllt. Wolzogen aber thut es
500
und dem Burgtheater=Director Schlenther, der
reit, unter lustigen Operettenmelodien den ruhm¬
„ 1000
unter 11 Worten nicht. In Wien hätte man
die Feder mit dem Theaterdirectors=Scepter
reichen Corsen auf der Wieden abzulösen. Das
so etwas vor einigen Jahrzehnten „Sittenbild“.
lm vertauscht hat, hat dieses der Welt noch unbe¬
Repertoire sieht sogar im Vorhinein eine Ab¬
genannt; jetzt sagt man mit genialer Unbe¬
Abonneme kannte Stück Arthur Schnitzler's entfesselt!
wechslung vor und rechnet mit der Uibersied¬
stimmtheit „Wiener Stück“
als ob gerade
Abonnente Mußte es Schlenther aufführen oder nicht?
lung des Carltheater=Großmoguls auf die
das, was man auf der Bühne so nennt, so
Das ist jetzt eine Frage, welche mehrere Lite¬
jüngste Napoleonbühne Wiens.
färbt oder so verzerrt, allein=wienerisch wäre!
Der raturcirkel stürmisch dewegt. Es ist viel Tinte
Inhaltsan
Und wie ist der große Personen=Tausch
Ebenso wenig ist das allein=münchenerisch, was
blütte, um diese Frage verschrieben, viel heiliger Zorn
Raimundtheater=Volkstheater, Carltheater=Rai¬
Wolzogen mit seiner „talentvollen“ Münche¬
wodurch e verbraucht worden, und doch weiß man noch
mundtheater ausgefallen? Herr Thaller ist
nerin, einer ganz=modernen Fatinitza, vorgehen
des In- i keineswegs, ob Schlenther wirklich der Ver¬
rasch, an einem einzigen lustigen Abende, voll¬
läßt. Auch der Humor Wolzogens ist an keine
werden in brecher war: vielleicht wäre etwas Geduld sehr
bürtiges Volkstheater=Mitglied geworden. Er
Stadt gebannt; er ist grenzenlos, d. h. er
anzuempfehlen, bis das geschätzte Publicum in
spielte den fanatischen Junggesellen=Baron in
voltigirt tapfer über alle Geenzen des einfach¬
die Lage kommt, darüber zu entscheiden, wie
dem Dreyer'schen Schwank „Die Großmama“,
komischen und wird grotesk, Frau Odilon
schwer sich das Burgtheater durch seine Zurück¬
und das Publicum, das schon ganz premieren¬
war das „Mädchen von Talent“. Man muthet
haltung an dem Werke versündigt hat. An
haft aussah, jubelte ihm zu. Thaller ist eben
ihr eben alles Talent zu, und sie hat auffal¬
positiven Thaten that das Burgtheater, seitdem
einer von jenen ganzen großen Männern, die lend viel davon — ein Stück kann durch sie
es seine Pforten wieder eröffnet hat, nur eine
auf der modernen Bühne selten sind; er ist sund von ihr leben:
jener „Neuaufführungen“ geboten, wie sie seit
ein Original, keine Copie, und deshalb ersetzt
einigen Jahren das rührend= herzliche Ver¬
er wieder Originale, Tyrolt z. B., wahrschein¬
hältniß zwischen den einzelnen Schaubühnen
lich auch Girardi, der irrlichtelirend zwischen
der Residenz ermöglicht: die Aufführung der
allen Wiener Theatern herumflackert und sich
„Mütter“ Georg Hirschfelds, welche schon das
nicht entschließen kann, irgendwo sein Licht leuchten
deutsche Volkstheater als echte Neuigkeit ge¬
zu lassen. Wahrscheinlich wird er sich unter die
bracht hatte.
Meistbietenden monatweise verspielen lassen:
Ja, es ist rührend, jenes Verhältniß.
das Wiedener, das Raimund= und Josephstädter,
Man tauscht die Mitglieder, die Stücke, ja
vielleicht auch das Carltheater, wollen ihren
mitunter das gesammte Personal und Reper¬
Girardi=Monat haben, und verschiedene Federn
toire, so daß man in allen zwanzig Wiener
spitzen sich bereits, um jeder in die Girardi¬
Bezirken die gesammte Wiener Kunst ohne be¬
Bewerbung treienden Direction ein an den be¬
sondere Tramway= und Omnibus=Reisen aus
rühmten kostbaren Leib geschriebenes Stück
nächster Nähe genießen kann. Das Burg¬
zu dichten.
theater hat dem Volkstheater
in aller
So weit hat es Thaller, der ja auch einmal
Harmonie seine beste weibliche Kraft Frau
und zwar recht lange der Liebling Prags war,
Schmittlein, abgenommen und entführt ihm
noch nicht gebracht: er zählt noch zu denjenigen,
nun eine fast ebenso werthvolle Schauspielerin,
welche an einer einzigen Bühne aushalten
Frau Retty
dafür ist das Volkstheater
können. Auch mit den „Leib= und Zug=Stücken“
prompt in den Wiederbesitz des an die Burg
hat es gute Wege bei ihm; sein Repertoire ist
verlorenen Kutschera gelangt. Das Raimund¬
elastisch und reicht von dem hartgesottenen Jung¬
theater cedirt demselben Volkstheater, allerdings
gesellen auf Schloß Soundso weit ins Anzen¬
mit mäßiger Freude, Willi Thaller und ent¬
gruber=Reich und in das feinere Lustfpiel hinein.
schädigt sich dafür durch das Engagement von
Sein Debut war belebt durch die Kraft und
Betty Stojan, dem bisherigen Carltheater¬
Elasticität seines Humors, der überall siegreich
Stern, der nicht mehr der Operette leuchten,
sein wird. Im Ensemble dieser „Großmama“
sondern der Posse, vielleicht sogar dem Lustspiel
Vorstellung fiel eine anmuthige Erscheinung
sein schneidiges Talent widmen will. Carl¬
besonders auf: Frl. Melanie Ermarth; auch sie
theater und Theater an der Wien — einst zwei
hat Berührungspuncte mit Prag. Ihr Eltern¬
hitzig kämpfende Rivalen — haben überhaupt
Paar ist das Künstler=Paar Ermarth, einst
einen Bund der Herzen und der Häuser ge¬
„Puls=Häckel“, das mit der Direction Kreibig
schlossen, wie er inniger in der Wiener Theater¬
nach Prag kam und unter den damals wenig
welt noch nicht da war. Ihre Directoren, über
zahlreichen glücklichen Debutanten des neuen
denen ungenannte gemeinsame Schutzmächte in
Regimes war. Herr Puls nahm später den
den Wolken schweben, haben ihr ganzes Pro¬
Familien=Namen Ermarth, den er als bairischer
gramm auf ein großartiges Tauschgeschäft ge¬
Chevauxlegers=Officier getragen und bei dem
stellt. Sie eröffnen diesen Samstag gleichzeitig
Bühnen=Sprung in die Theaterwelt wieder ab¬
ihre Pforten! Langkammer, der neue Herr im
gelegt hatte, an und wurde eine beliebte ko¬
Hause an der Wien, debutirt mit einem Titanen¬
mische Hauptkraft des Münchener Gärtnerplatz¬
werke, das bisher nur wenige Normalbühnen
Theaters; seine Gattin (in Prag lirische Sän¬
zu tragen vermochten, mit Grabbes „Napoleon“.
gerin) ward Operetten=Primadonna, das holde
dessen Titelrolle der ehemalige „Meininger“
Töchterlein hat Beider Talent geerbt und
Herr Kober, verkörpern wird. In Berlin ist
ringt jetzt im Volkstheater nach künstlerischer
dieses oft verunglückte Napoleon=Experiment
Geltung
thatsächlich gelungen; daß es in Wien gerade
Sollen wir noch mit chronistischer Voll¬
die Heimstätte der schönen Helene ist, welche
ständigkeit von den letzten Wiener Novitäten
Grabbe ein so großartiges Opfer bringt, ver= sprechen? Das Volkstheater hat ein Wolzogen¬