II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 232

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17. Jänner 1903.
Die Zeit.
Wien, Samstag,
Nr. 433.
lichen Liberalismus mitgebracht. Diesem Ideal sei es ergangen, wie
Gelehrsamkeit, die allzunüchterne, ohne jede Persönlichkeitsbeziehung
es politischen Idealen zu ergehen pflegt; es werde heute in Deutsch¬
betriebene, ohne subjective Färbung unternommene, vom Glanze
land nicht mehr besonders hoch eingeschätzt und sei auch in England
der starken Individualität unberührte Wissenschaft, so unnütz, ja so
sehr verblafst. Aber dieses Ideal habe doch seine Zeit und uner¬
gefährlich gewesen, wie heutzutage. Jeder Gelehrte, und sei er in
messliche Verdienste gehabt. „Ganz besonders wirksam und wohl¬
vielen Dingen noch so sehr auf falscher Fährte, der sich emsig be¬
thätig hat es sich im neunzehnten Jahrhundert in England bewährt,
müht, auch das Erlaubt=Subjective in der Wissenschaft zu geben,
wo es gelungen ist, den alten aristokratischen Staat und die
Persönliches zu bringen, erwirbt sich große Verdienste um unsere
aristokratisch gegliederte Gesellschaft in die modernen Lebensformen
Cultur. Denn Mystiker und Clericale auf der einen, einseitige
schrittweise hinüberzuführen.“
Künstler und seichteste Materialisten auf der anderen Seite laufen
Was den politischen Artikeln Delbrücks Reiz verleiht, das ist
Sturm gegen die Culturerrungenschaften, die mit einer hohen Be¬
sein Humor. Einige sind geradezu Satiren, Satiren der gutmüthigen
wertung wissenschaftlicher Methodik und wissenschaftlichen Geistes
Art. So beweist er einmal, dass die Polenpartei die einzige von
eng verknüpft sind. Darum sollen jedem Gelehrten, wenn er nur
allen Parteien im neuen Reiche sei, der es gut gehe — dank der
auf diesen Namen Anspruch machen kann, alle Sünden verziehen
Weisheit der Regierung und der Selbstaufopferung der Hakatisten,
werden, wenn er starke Beziehungen zum Leben gehabt. Darum
und im Mai 1895 veröffentlicht er eine Denkschrift, die ihm auf
wird auch der Historiker der Zukunft, nachdem er bei allen den
den Redactionstisch geflogen sei, und in der er einen Socialdemo¬
Schwächen, Einseitigkeiten und schiefen Werturtheilen Dührings
kraten seinen Feldzugsplan entwickeln lässt, der Umsturzvorlage zum
ausführlich verweilt hat, sicherlich die Bilanz dieses Lebens in dem
Siege zu verhelfen und dadurch die Partei zu retten, die sonst ver¬
Satze ziehen: er war in dieser halb alexandrinischen Periode, nehmt
loren sein würde. Dann fliegt ihm die Gegenschrift eines anderen
alles nur in allem, ein großer Gelehrter und doch eine Persönlichkeit.
Genossen zu, die mit den Sätzen anfängt: „Der Spitzbube, der die
Dr. Paul Weisengrün.
Gedenkschrift unseres Münchener Genossen der Redaction der
Preußischen Jahrbücher ausgeliefert hat, hat die Durchführung der
dort vorgeschlagenen Taktik unmöglich gemacht. Ich hätte den
Ein preußischer Publicist.
„Preußischen Jahrbüchern“ die Gemeinheit, ein gestohlenes Actenstück
zu veröffentlichen, nicht zugetraut.“ Der Humor schützt Delbrück vor
ans Delbrück ist der Welt bekannt als Nachfolger Treitschkes
Verbitterung, erhält ihm das Auge klar und das Urtheil unbe¬
J0 in der Leitung der „Preußischen Jahrbücher,“ als ein Kriegs¬
fangen. So kommt es, dass er, der stramme Protestant und begeisterte
geschichtsschreiber, der sich ein Vergnügen daraus macht, schöne, liebe
Bismarck=Verehrer, der katholischen Kirche in höherem Grade gerecht wird
Legenden zu zerstören, und als einer der wenigen Bismarck=Gläubigen,
als der geborene Katholik und Exjesuit Graf Hoensbroech, den er in
die sich genug gesunden Menschenverstand bewahrt haben, die von
die protestantische Publicistik eingeführt hat. „Graf Hoensbroech geht
Bismarck inaugurierte Polenpolitik dumm zu finden. Nachdem er
darin zu weit, dass er die heutige „ultramontane Kirche für eine
schon im Jahre 1887 eine kleine Auswahl seiner zahlreichen Zeit¬
bloße Missbildung erklärt. Sie ist allerdings erst seit dem neunten
schriftenaufsätze herausgegeben hat, beschert er uns jetzt in einem
Jahrhundert so geworden, aber eine durchaus consequente und
starken Bande 36 Stück unter dem Titel „Erinnerungen, Auf¬
historisch nothwendige Ausbildung der katholischen Grundgedanken.
sätze und Reden“ (Berlin, Georg Stilke, 1902). Sie sind alle¬
Die Jahrhunderte und nun gar die Jahrtausende irren sich nicht
sammt des Aufbewahrens wert und bis auf ein paar kriegstechnische
so sehr; eine so große, so alte, so mächtige Thatsache wie die
von allgemeinem Interesse.
römische Kirche ist schon sich selbst ihr Beweis ihrer eisernen,
In einem Nachruf auf seinen „väterlichen Freund“ den
unerbittlichen Nothwendigkeit. In einem, meint er, habe Hoens¬
gelehrten Religionsphilosophen, Krieg=in=Sicht=Artikler und (als
broech das Richtige getroffen. Wenn Preußen den Ultramontanis¬
Director des literarischen Bureaus) Verfertiger Höchster und Aller¬
mus bekämpfen wolle, so sei es eine Thorheit, dem Clerus die
höchster Meinungen, Constantin Rößler, erzählt uns der Verfasser,
deutsche Bildung aufzuzwingen und ihm so die geistige Rüstung
wie er selbst als Student (er ist 1848 geboren) noch im Bannkreise
und die Waffen der modernen Zeit zu liefern; es möge die Er¬
der Ideen der Fortschrittspartei gelebt und Bismarck als den Tod¬
ziehung der Geistlichen den Bischöfen überlassen; dann werde der
feind des deutschen Ideals gehafst, wie ihm Rößler der vor allen
katholische Clerus in Deutschland so unwissend, so ohnmächtig und
seinen Freunden Bismarcks Herz entdeckt hatte, den Staar gestochen,
einflusslos werden, wie er es schon lange in den romanischen
wie ihn aber erst die französische Campagne, die er mitmachte, voll¬
Ländern ist. So würde der Staat den Katholicismus dadurch zu¬
ständig bekehrt hat. Als Erzieher des Prinzen Waldemar in die
grunde richten, dass er sich den Katholiken freundlich erweist, ihnen
Familie des Kronprinzen, des späteren Kaisers Friedrich aufgenommen
den Willen thut und sich damit, solange sie noch eine eigene
und selbstverständlich von aufrichtiger Liebe und Bewunderung für
Partei bilden, ihre politische Unterstützung sichert. Zweifel daran,
den edlen Fürsten und seine schöne, geistvolle und gemeinnützig thätige
ob es klug war, den Katholiken die Waffen zur Vertheidigung gegen
Gemahlin erfüllt, hatte er manchen Gewissens= und Herzensconflict
den modernen Geist und gegen den Protestantismus aufzu¬
zu bestehen, in den ihn das bekannte Verhältnis des hohen Paares
zwingen, sind auch schon dem Fürsten Bismarck aufgestiegen; er hat
zu seinem höchsten Heros verwickelte; den schlimmsten wohl, als
das selbst im Reichstage bekannt. Ob jedoch Hoensbroechs Plan
Bismarck gegen das von Geffken herausgegebene Kriegstagebuch
heute noch ausführbar wäre, das ist doch sehr zweifelhaft; die
des unglücklichen Kaisers zu Felde zog. Auch gegen den sonst ver¬
deutschen Katholiken haben, wie ihre Bemühungen um die Er¬
ehrten Gustav Freytag musste er sich damals wenden, der des Ver¬
richtung einer theologischen Facultät in Straßburg beweisen, den
storbenen Kaiseridee auf Eitelkeit und Prunksucht zurückführte; der
Wert der Universitätsbildung schätzen gelernt, und sie würden die
Dichter habe trotz seiner Geschichtskenntnis philisterhaft die tiefe
Verweisung der zukünftigen Theologen in Clericalseminare so
Wurzel der durchaus berechtigten Idee übersehen und die Wichtig¬
wenig als eine gutgemeinte Wohlthat empfinden, wie die Christen
keit der Namen und der Formen unterschätzt. Also das und vieles
des vierten Jahrhunderts die entsprechende Maßregel Julians.
andere waren böse Sachen. Aber mit weltmännischer Gewandtheit,
Uebrigens genügt, wie der oben erwähnte Genosse richtig bemerkt
hegelscher Phisosophie, bismärckischer Schulung und gutem Humor
hat, zur Vereitelung solcher Pläne ihre Veröffentlichung. Ein
kommt man über alle Schwierigkeiten hinweg. Wie man im Hand¬
Cabinetsstück liebenswürdigen Humors ist „die gute, alte Zeit“.
umdrehen Bismarcks Canossagang (S. 419) in „eine Kette von
Cabinetstück nicht etwa als Kunstwerk, sondern als glücklicher Ein¬
Triumphen der Bismarck'schen Staatskunst“ umdichtet, so findet man,
fall; denn es besteht nur aus aneinander gereihten Lesefrüchten: Klagen
dass das Tagebuch vortrefflich, aber erst in einer fernen Zukunft
über die jämmerliche und böse Gegenwart und Preis der guten,
genießbar sei und dass seine vorzeitige Veröffentlichung dem Andenken
alten Zeit. Zuerst geht das Jahr um Jahr rückwärts, dann in
des Kaisers Friedrich einen nicht wieder gut zu machenden Schaden
größeren Schritten von Jahrzehnten und Jahrhunderten bis auf
zugefügt habe. Die Erinnerungen an das Konprinzenheim sind
den guten, alten Nestor; über dessen Jugendzeit „fehlen uns leider
gemüthvoll und bringen hübsche Anekdoten. Nicht gerade amüsant
die zeitgenössischen Berichte“. In dem Chor der Klageweiber und
aber charakteristisch ist die folgende. Die Kronprinzessin fragt
laudatores temporis acti fehlt keine Partei — auch die liberale
Delbrück, welcher Partei er angehöre. „Kaiserliche Hoheit, ich bin
nicht — kein Land, kein Stand und keine Confession; auch ohne
conservativer Socialdemokrat.“ — So?“ antwortete sie spitz und fast
Delbrücks Sammlung dürfte Luthers Klage bekannt sein, dass
böse; „das ist ja recht hübsch, auf beiden Seiten um das Richtige
unterm Papstthum alles aufs schönste bestellt gewesen und der
herum.“ Ein Mann, der sie sehr genau kannte, hat am Tage der
Teufel erst los sei, seitdem das Licht des Evangeliums leuchte. Auch
Beisetzung Delbrück gesagt: dass sie antipreußisch gewesen sei, ist
Wien ist vertreten durch eine Schilderung aus dem fünfzehnten
nicht wahr; sie war antipotsdamisch. Dieses hon mot, meint Delbrück,
Jahrhundert. Tag und Nacht setze es Händel; bald stritten die Hof¬
enthalte thatsächlich alles. „Potsdam ist der Ausdruck jenes aus
leute mit den Handwerkern, bald die Handwerker wider die
Junkerthum, Frömmelei und Commiss zusammengesetzten Preußen¬
Studenten, bald Arbeiter und Handwerker wider einander; kein
thums, dem die romantische Phantasie Friedrich Wilhelms IV. ver¬
Feiertag vergehe ohne Todtschlag. Das Volk sei ganz fleischlichen
gebens einen wirklich lebendigen Geist einzuhauchen versuchte. Der
Lüsten ergeben, verthue am Sonntag, was es in der Woche ver¬
wahre preußische Staat aber war nicht Potsdam, sondern brach aus
dient; der Bürger mache sein Haus zur Kneipe, liederlicher Dirnen
der harten, hässlichen Kruste der Reaction hervor, um das schlafende
gebe es eine große Schar, und eine Frau habe selten an einem
Dornröschen Deutschland aufzuwecken und das zukunftreiche neue
kurz; es sei ein verschlemmtes, wüstes Wesen.
Manne genug
Deutsche Reich zu begründen. Die Prinzessin Victoria habe das in
Das Schönste aber ist ein Nachtrag, worin über die Aufnahme der
ihrem Vaterlande soeben zur Herrschaft gelangte Ideal des bürger¬