II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 233

Nr. 433.
17. Jänner 1903.
Die Zeit.
Wien, Samstag,
Seite 30.
folgte einfach der Mode; und die „literarisch Gebildeten“ aus der
ärgerlichen Sammlung berichtet wird. Ein Fractionscollege im Reichstag
übersatten Bourgeoisie giengen ins Theater zu den „Armeleut¬
sagte ihm: „Sie haben ganz recht, Herr Professor, es wird immer
stücken“ ungefähr wie einst die Schlemmer der römischen Kaiserzeit
schlechter!“ Und ein gelehrter Freund: „Du hast Caprivi damit
eine Belebung ihrer Genufsfähigkeit in der cella pauperum suchten.
feiern wollen.“ Man könnte wirklich beinahe glauben, die Welt
Schließlich trug sogar der Aufschwung der Naturwissenschaft dazu
werde zwar nicht schlechter aber dümmer.
bei, das Historische als zur Gestaltung ungeeignet erscheinen zu lassen.
Wissenschaftlichen Wert haben einige historische Unter¬
Die Methode, der man die neuen glänzenden Resultate verdankte,
suchungen. Der Held von Aspern wird seines Nimbus entkleidet
die empirische, hielt sich an das gegenwärtige Object, sah zunächst
und steht als das Gegentheil von einem Helden und Feldherngenie
von dem zeitlich Zurückliegenden, ins Grab Gesunkenen ab. Mehr,
vor uns; die Frage, ob der siebenjährige Krieg zum Zweck der
als das Studium von „documents“ zur Neuerweckung vergangener
Vertheidigung unternommen wurde, beantwortet der Verfasser wie
Epochen, wurde die Beobachtung am Lebendigen das Princip der
Lehmann mit nein; Preußen bestand nach dem zweiten Schlesischen
Kunstübung. So kam durch eine ästhetische und unter Mitwirkung
Kriege aus lauter gar nicht oder schlecht zusammenhängenden
von socialen und wissenschaftlichen Strömungen das Gegenwart¬
Gliedern. Der große König wollte seinem Staat eine haltbare
drama zur Herrschaft.
geographische Grundlage schaffen, Sachsen und Westpreußen erobern
Heute gilt der Naturalismus für todt. Eine starke Reaction
und den Kurfürsten von Sachsen mit Böhmen entschädigen. In
hat sich gegen ihn erhoben. Es gibt innerhalb der menschlichen
einer Kritik der Sybel'schen Darstellung wird die Frage nach dem
Beziehungen noch andere Mächte, als Hunger und Liebe, andere
Ursprung des französischen Krieges ins Reine gebracht. Napoleon
Kämpfe, als den der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der
hat nicht kopflos gehandelt, hat nicht chauvinistischem Pöbelgeschrei
Arbeiter gegen die Brotherren, des Proletariats gegen das Capital.
nachgegeben; das Bündnis mit Oesterreich und Italien ist keine
Nicht nur der Alltag, auch das Ungewöhnliche, der Ausnahmefall
Legende. Dieses Bündnis war verabredet, und dass es beim Aus¬
verlangt nach Gestaltung. Der bloße Ausschnitt aus dem Leben
bruch des Krieges noch nicht abgeschlossen war, das lag nicht an
genügt dem ästhetischen Bedürfnis nicht, man begehrt ein abge¬
Oesterreich, sondern an Napoleon. Dessen Methode war es (neben¬
rundetes Bild, innere Bedeutsamkeit, eine Kunst der Symbole.
bei bemerkt, auch Bismarcks), immer zwei Eisen im Feuer z
Ueberdruss am Gegenwartdrama half das historische zu neuem
haben. Er hätte seine beiden Ziele: einen Gebietzuwachs für Frank¬
Dasein erwecken. Es ist nicht nur die wechselnde Mode, die diese
reich und Verhinderung der Einigung Deutschlands, lieber mit
Tendenz fördert, wie etwa in Frankreich der frischbelebte Napoleon¬
Preußen als gegen diese Macht erreicht; er führte die Bündnis¬
Cult eine Anzahl Empiredramen zeitigte, deren wirksamstes die
verhandlung bis auf den Punkt, dass er der österreichischen Hilfe,
„Madame Sans-gène“ des Theaterpraktikers Sardou war. Nicht
sobald er ihrer bedurfte, gen 's war, wollte sich aber die Hände
von jenen Biedermaier=Stücken soll hier die Rede sein, in denen das
frei behalten, um auf deutschem Boden mit beiden Mächten ver¬
Costüm Hauptsache ist. Die Mode erzeugt nicht literarische
handeln zu können. Sowohl er, als der Erzherzog Albrecht und
Strömungen, sie begleitet sie nur. Man darf von einer neuen
Beust verrechneten sich um einige Wochen in der Bestimmung der
Romantik sprechen; die Phantasie schaltet wieder freier mit dem
Zeit, die ihrer Ansicht nach Preußen zur Mobilmachung brauchte,
Material der Erfahrung, wagt den Schritt über den Bezirk der
und so warf denn die affenartige Geschwindigkeit der Preußen auch
Erfahrung hinaus, nicht nur in den des Unerforschten, des Traumes,
alle übrigen schönen Berechnungen über den Haufen. Delbrück
auch ins Dämmer der Vergangenheit taucht sie hinab. Abermals
meint, man brauche keine Störung des gegenwärtigen guten Ein¬
wird die ästhetische Entwickelung durch Erscheinungen auf benach¬
vernehmens mit Oesterreich davon zu befürchten, dass er dessen
barten Gebieten begünstigt. Ein tiefgehendes Missvergnügen an den
damalige Politik enthülle. Damals habe Oesterreich guten Grund
unfreien und unschönen Daseinsformen der Gegenwart, der Groll
gehabt, zu glauben, dass seine Existenz von Preußen bedroht sei.
über politischen und socialen Druck lässt senfiblen Naturen die Ver¬
Seitdem habe es überzeugende Beweise vom Gegentheil empfangen,
gangenheit in strahlendem Lichte erscheinen; und wenn es Künstler,
und damit sei die aufrichtige Aenderung seiner Politik von selbst
wenn es Dramatiker sind, so formt ihre Sehnsucht, ihre Empörung oder
gegeben, während ihm kein Preuße verargen könne, dass es seiner¬
Resignation Gestalten und Bilder aus entfernten Tagen. Das Indivi¬
zeit die vermeintlich nothwendigen Abwehrmaßregeln getroffen habe.
duum regt sich wieder, stellt seine Forderungen an die Welt, mag nicht
Ganz actuelles Interesse hat eine vor drei Jahren nach einem
untergehen in der Allgemeinheit, nicht seine Bedürfnisse und Wünsche
Besuch in Warschau niedergeschriebene Schilderung des geistigen,
denen einer tyrannischen, gleichmacherischen Gesammtheit unter¬
sittlichen und wirtschaftlichen Aufschwunges der russischen Polen.
ordnen. Dem Altruismus steht der Individualismus schroff gegenüber.
Wie habe, heißt es am Schlufs, Italien die Hoffnungen getäuscht,
die man bei seiner Einigung und Befreiung auf das hochbegabte
Volk setzte! „Arm, elend, ohne Ideale, ohne Talente ohne Erfolge
Die Naturalisten hatten mit der „moralischen Verantwort¬
kriecht dieses moderne Italien am Boden hin. Noch schlimmer steht
es in Spanien. Als einzige von allen katholischen Nationen hält lichkeit“ aufgeräumt, indem sie die Handlungen der Menschen aus
ihrer Natur und ihrer Umgebung erklärten. Fort mit „tragischer
die französische sich noch aufrecht, aber ohne wahre Freude am
Schuld“ und „Sühne,“ denn die eiserne Nothwendigkeit des Natur¬
Dasein. Dagegen Polen, das ausgelöscht schien unter den Namen
gesetzes zwingt dem Menschen den Weg auf, ihm und den anderen,
der Völker! Gerade unter der fremden Herrschaft hat es erst sein
unter denen er lebt, mit denen er unlöslich verbunden ist, einer
Volksthum gefunden.“ Vorausgesetzt, dass Delbrück richtig be¬
von vielen. So jetzt und so immer. Die naturalistische Methode
obachtet hat, würde das Wunder einen neuen Beweis für die alte
fand schon zur Zeit ihrer Blüte Anwendung auf Stoffe der Ver¬
Ansicht liefern, dass Civilisation die Kräfte der Völker aufzehrt,
gangenheit, nur blieben diese Versuche vereinzelt. Im Grunde
und dass darum die Menschheit jederzeit eines Vorraths von
waren ja „die Weber“ schon historisch; doch man vergaß, dass es
Barbaren bedarf, aus deren unverbrauchter Naturkraft immer
„Vorgänge aus den Vierzigerjahren sein sollten, nahm es wie ein
wieder neue Civilisationen entstehen können.
Stück aus dem Leben unserer Tage.. Dann aber griff Hauptmann
Karl Jentsch.,
Neisse.
weiter zurück, in die wilden Tage der Reformation, da die bedrückten,
halb verhungerten Bauern sich in offener Empörung zusammen¬
rotteten gegen Junker und Pfaffen. Auch hier ein socialer Gegen¬
Moderne Geschichtsdramen.
satz. Die ganze Bewegung eine Sturmflut, die den übermüthigen
Herren bis an den Hals schwillt, um schließlich mangels Selbstzucht
Die literarische Revolution, die man als „naturalistische Bewegung“.
und Einigkeit elend im Sande zu verlaufen. Also könnte das
bezeichnet, warf das geschichtliche Drama zum alten Eisen. In
Stück „Die Bauern“ heißen, wie das andere „Die Weber“, und
diesen Historienstücken war von dem psychologischen Gehalt einer
jene Scene wäre Gipfelpunkt, wo die Ritter, trunken von Sieg
Culturperiode, von dem charakteristischen Empfinden einer ganzen
und Wein, ihren rohen Uebermuth mit Peitschenhieben an den
Zeit gar wenig zu verspüren; conventionelle Conflicte, conventionell
gefangenen Bauern auslassen? Doch nein: „Florian Geyer“
gesehene Gestalten, in einem historischen Krimskrams, alles anempfun¬
heißt es, ein einzelner steht inmitten. Er ragt hervor unter den
den, alles „gestellt“ wie Modelle im Atelier. Die Gattung war in
Führern der Aufständischen, nicht als Ritter, der auf bäuerischer
Misscredit gerathen; nur noch einzelne Primaner etwa fühlten sich
das thun auch Götz von Berlichingen und Stephan
Seite kämpft —
unwiderstehlich zu einem Römer= oder Hohenstaufendrama gedrängt.
von Menzingen — sondern weil er mehr als alle den persönlichen
Die neue Form der künstlerischen Anschauung schien gebieterisch auch
Vortheil nichts achtet, Glück und Leben der Sache opfert, stark
andere Stoffe zu verlangen. Und wie so oft, giengen mit der
und treu bleibt bis in den Tod. Nicht was er thut: was er ist,
ästhetischen Umwälzung Erscheinungen des politischen und socialen
macht ihn zum Helden. Er wird mehr geschoben, als er schiebt,
Lebens parallel. Die „sociale Frage“ war stärker, als zuvor, in den
vermag den Gang des Schicksals nicht aufzuhalten. Freiheit und
Vordergrund getreten; man interessierte sich nun für das Geschick
Recht wollte das geknechtete Volk sich erstreiten, und es ist noch
der großen Masse. Zu Ende war die Alleinherrschaft der auser¬
nicht für Freiheit reif: seine Zügellosigkeit, die es damit ver¬
wählten Individuen: jetzt kamen da oben auf den Brettern Durch¬
wechselt, wird ihm zum Verderben. Durch diese stürmische Zeit,
schnittsmenschen und Alltagsverhältnisse zur Geltung; aus der
durch Gewaltthat und Zerstörungswuth wetterleuchtet es nur erst,
Vergangenheit, aus den Palästen der Großen, der Reichen fanden
wie Ahnung kommender Tage, wie ein unklarer Drang nach
die Dichter den Weg zur Gegenwart, in die Kellerwohnungen, ins
höchsten Lebenswerten. Und das große, heiße Gefühl findet künst¬
Hinterhaus. Der Altruismus, das Mitleid mit den „Enterbten“
lerischen Ausdruck in der Gestalt des Florian Geyer, des Ritters,
unserer Tage war manchem Herzenssache; das große Publicum