II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 255

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14. Der Schleier der Beatrice
Jugend; der Andre auf ein früh erwachtes Alter. Wer zuletzt lacht, lacht am
besten.
Martin Zickel stand neben Beiden: wagelustig und ernst, empfänglich so für
neue Humore wie für neue Sehnsüchte. An ihn sich zu halten wird der Nach¬
wuchs am gescheitesten thun.
VIII.
Die Macht der Finsternis war eine sichere Nummer von der Freien Bühne
her; Brahm spielte sie. Das Korrektiv für diesen Tolstoi scheint mir Ibsen. Was der
alte Akim sagt, sind Ur=Grundsätze des Gewissens. In einer zerklüfteten, in einer
Neues gebärenden Zeit so grundlegende und simple Dinge zu gestalten: darin liegt
die Macht des Stücks. Für Westeuropa mit Ibsen hat es doch wohl keine Geltung.
Im Beginn wird ein Mädchen verführt und verlassen. An diesem Seelenmord
geht Tolstoi vorbei. Zwei wirkliche Morde macht er zur Hauptsache. Soll man
uns predigen: zerquetscht keine kleinen Kinder, vergiftet keine Ehegatten? Man
soll es nicht. Die Einfachheit eines gewissen Barbarentums mag zu bewundern
sein. Rußland ist ein merkwürdiges Land an Klima, an Zurückgebliebenheit. Ibsen
blickt wohl mit ethnologischen Augen auf dieses Stück. Ich kann mir nicht helfen:
es ist recht schön primitiv zu sein; jes ist aber noch viel schöner, sehr differenziert
zu sein.
IX.
Also wir sahen Kleinbürger; wir sahen die neuen Gründungen; wir sahen
den alten Naturalismus; wir sahen die Fremden: den einen von thönerner Größe,
den andren von barbarischer Stumpfheit; wir sehen jetzt L. Fulda, der muntere,
adäquate Verse macht. Er schrieb die erfolgreiche „Zwillingsschwester“, unter dem
Flügelrauschen seines Vogels, der ein Kanari ist; sodaß er hinter Cajetan von
Münch=Bellinghausen und dem falschen Spanierlustspiel nur wenig zurückbleibt.
Stilisierten Ernst geben die Verse von Schnitzlers Beatrice. (Wegen der
Verse die Nachbarschaft.) Die Dichtung spielt in Bologna, und wurde gespielt in
Breslau; dort sah ich sie. Der Held ist ein Prüfer: mißtrauisch gegen alle
Daseinswerte; eifersüchtig auf Träume der Geliebten. Ein Stück Lustmörder. Den
Leib zu kosten sättigt sie nicht; sie schlitzen den Bauch auf, das Geheimnis heraus¬
zuholen.
Solche Köpfe, unglücklicher und feiner, braten an der eignen Fackel, mit der
sie ableuchten. Der beste Standpunkt zu dem Fall scheint uns: „Lohnt es denn?“
Man hat ihn allerdings nicht mittendrin, sondern vorher oder nachher.
Meistens nachher.
Hebbels Herodes, in einem der größten Liebesdramen aller Zeiten, ist so
Einer, der grüblerisch lugt, ein gesteigertes Bewußtsein des Geliebtwerdens
herbeizuführen; der eine Gewißheit möchte, über das Thatsächliche hinausgehend.
Innige Qual, verlangende Grausamkeit, Verzweiflung sehnsüchtigen Mißtrauens,
küssende Wut und nagende Wonne, untrennbare Gemeinschaft und ewige Fremd¬
heit verschlingen sich. Er tötet die Frau.
Schnitzlers Melancholiker tötet sich selbst. Und hier ist der dunkle Punkt.
Man wird überrascht. Man fühlt nur ein Wollen des Dichters, nicht ein Müssen
der Gestalt. Warum? schreit der Hörer. Schnitzler sagt: Aus Trauer im An¬
blick der entgötterten Liebe. Aus sonstiger Enttäuschung. Aus Schuldgefühl auch.
Endlich ist er Poet. Immerhin: der Tod bleibt ein Einfall.
X.
Dem Helden gegenüber steht der zweite Held: ein Herzog. Der lebt in
Thatkraft das volle Leben; verlangt nicht bohrend Unerreichbares. Dennoch ist er,
der Eine wie der Andre, zuletzt getäuscht: von Beatrice.
Der Eine wie der Andre ahnt die Worte Salomos: „Das Weib ist bitter.“
Zugleich, das ist das Tragisch=Holde, bricht ihre Süße durch. Es giebt ja welche,
die sind schön und hundeschnäuzig. Wissen nicht, wann sie lieben und wann sie