II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 254

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14. Der Schleier der Beatrice
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Das Theaterstück, ohne dichterische Ausschweifung, von besseren Literaten
gemacht, war ein Merkmal dieses Winters. Die beiden Kramer, der Alte und der
Junge, haben durchaus keine Verwandten. Ein Kleinbürgertum der Dichtung gewinnt
an Raum. Sie nehmen das Feuer vom Altar in die Küchenöfen. Daneben blüht
ein neuer Spezialismus. Vom Rosenmontag sprach ich. Wie grob ist dagegen
Otto Ernst, der nicht Offizierssitten, sondern die Volksschule bearbeitet. Dieses
Verräterchen wälzt sich im Spießertum. Max Dreyer richtet seinen Ewigkeitsfern¬
blick auf die Siegesallee. Er verdammt kgl. Hochschulen für bildende Kunst.
Dreyer hat das fatale Format: zureichend geschickten Bau. Plattdütsche Trautheit
zwischendurch. Er ist der geborene evangelische Schriftsteller.
Welch ein Phantaft, gegen sie alle, bleibt der Sudermann des Johannisfeuers.
Er sprießt auf, wo die Gartenlaube geschlechtlich wird. Er verschmäht kleine Tempe¬
riertheiten. Lernt von ihm.
Dreyer ist der Chef der Handwerkerschule.
VI.
Auch neue Gründungen wie das Ueberbrettl hatten den kleinbürgerlichen Zug.
Das Ueberbrettl dachten wir uns überlegener, kämpferischer. Ist Herr von Wolzogen
ein Europäer? Freilich. Er hat, obschon von Adel, in der Kunst die Witterung
des Mittelstands. Er schuf eine Anstalt für diesen.
Der Geheimbund „Schall und Rauch“ wirkt als cabaret Bedeutenderes.
Giebt wenigstens himmlische Parodistica.
Gegen das Mittelständige wollte die Secessionsbühne fechten. Sie brachte
die Komödie der Liebe, das Gewagteste von Maeterlinck, Hofmannsthal mit der
feinen Egoistenkunst, wo sie weicher, ausgekleideter, voller und wärmer in dem Ge¬
dicht vom Thoren auftritt, stellte Wassermann vor, gab Courteline, leider nicht
Wedekind. Grausenvoll, ein nächtiges Raubtier mit starren Augen, lugte im Hinter¬
grund ein mystischer Dalles. Auch sie landete zuletzt beim Spießerstück.
Immerhin: sie hatte protestiert.
VII.
Der übergangene Schulnaturalismus kam einmal zum Wort mit Schlafs
Oelze. Spiegelt er die Wirklichkeit? Der wirkliche Oelze ist größer als bei
Schlaf. Hier wird der Abgrund provinziell, der Mord hausbacken. Schlaf ist ein
deutscher Goncourt. Ein Versuchskünstler. Auch ihn umstrahlt die dunkle Gloria
der Schlemihle. Seinem grundsätzlichen Mut haben wir jedenfalls zu danken.
Schlaf kommt nicht zur Größe vor Ueberfluß an kleinen Bestandteilen.
Björnson kommt nicht zur letzten Größe aus Mangel an kleinen Bestandteilen. Er
giebt Felsstürze, Dynamitexplosionen. „Ueber unsere Kraft“ zweiter Teil, brachte
die stärkste Theaterwirkung seit 1894. Björnson ist ein Ueberblicker. Er sieht Um¬
risse. Er enthüllt am sozialen Kampf nicht die verborgenste Seele der zwei Wider¬
sacher: er zeigt vor allem die Gefahr des Zusammenstoßes. Björnson ist immer
noch stark und klar wie ein Bauer, wirksam wie ein Schauspieler, salbungsvoll
wie ein Pastor.
Beide wurden aufgeführt von Paul Lindau. Auch Schlaf, den er vor elf Jahren
bekämpfte. In der Freien Bühne vom 16. April 1890 rufen Schlaf und der neben¬
sächlichere Holz: „Scheemste Dir denn janich?“ Auch Wagners Bedeutung habe
Linbau zu spät erfaßt. „Jenau so wird't Dir nu in Deine ollen ehrwirdjen Dage
ooch wieder mit den sojenannten Naturalismus jehn . ... Dir Aas kenn' ick doch?“
Die Zeit verstreicht. Brahm redigierte 1890 diese milden Sätze. Heut ist
Lindau der Fortschreitende, Brahm der Zurückgebliebene. Lindau ging vom Un¬
wesentlichen zum Wesentlichen, Brahm vom Wesentlichen zum Unwesentlichen.
Lindau hat schwache Darsteller und wagt Bedeutendes. Brahm hat starke Dar¬
steller und wagt überhaupt nichts. Der Eine blickt auf eine spät erwachende