II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 262

box 20/3

14. Der schleien der atrige
Notizen und Besprechungen.
170
Maxim Gorki.
Verlorene Leute. — Der Pilger. — Das Ehepaar Orlow.*)
Im Osten ist ein Stern aufgegangen, dessen Leuchtkraft in diesen
Tagen bewundert wird, in der literarischen Welt von Berlin bis Paris.
Rußland ist ein poetisches Land.
Aber die Despotie, Sibirien, die „administrativen Wege“, die Anarchie,
der Meuchelmord, die Peter=Pauls=Feste, die Knute, das Bauernelend, der
Aberglaube, die Hungersnoth? Und Rußland ist dennoch ein poetisches Land.
Kann denn die Poesie wirklich nur mit der „Freiheit“ gedeihen?
Ist die Poesie nicht am meisten poetisch, wo sie aus der Sehnsucht stammt?
Und wo kann die Sehnsucht größer sein, wo kann sie aus tieferer Quelle
zu stärkerem Strome anschwellen, als dort, wo alle Bedingungen eines
Lebens, das wir Westlichen erst lebenswerth zu nennen pflegen, wenn nicht
fehlen, so doch kaum erst im Keim entwickelt sind? Daß aber auch dort,
auf tiefunterstem Grunde, die Menschen leben, ein Leben mit seinen eigenen
Gesetzen und besonderen Bedingungen, ist das nicht ein Sieg des Lebens
an sich? Und ist solcher Lebenssieg nicht wie ein Schauspiel, das ergreift
und erhebt? Ist solches Leben nicht Poesie? Und wenn Maxim Gorki
solches Leben schildert, ist er dann nicht in Wahrheit ein großer Poet?
Aus tiefunterstem Grunde ist Maxim Gorki emporgetaucht, aus einem
Sumpf, und ist doch kein Irrlicht, sondern ein Stern geworden. Pjeskow
heißt er eigentlich, und weiß nicht, wann er geboren ist, 1868 oder 1869.
Auch seinen Vater kennen zu lernen, wäre er nie in der Lage gewesen.
Die ihn aber geboren hat, starb früh. Der Knabe lernte in der Schusterei,
Malerei, Gärtnerei, Bäckerei, war als Schiffskoch thätig, als Advolaten¬
schreiber, Straßenverkäufer. Der Knabe war also wohl, was man so im
bürgerlichen Leben einen Taugenichts nennt. Der Jüngling, ein Zwanzig¬
jähriger, schoß sich eine Kugel gegen den Kopf, die aber ihren Zweck nicht
erfüllte. Nachdem die ziellose Kugel ihm entgangen war, begab er sich
auf die ziellose Wanderschaft, Jahre lang, durch's große Rußland krenz
und quer, als „armer Reisender“, als einer von den Entgleisten, von den
„verlorenen Leuten“. Dieser A. M. Pjeskow, der sich unter das
schmutzigste, niedrigste Diebs= und Raubgesindel mischt, ist entschieden kein
Mann von Reputation. Wie groß aber muß die Kraft dieser Seele sein,
was muß diese Seele gelitten, wie muß sie gerungen haben, diese
Dichterseele, die nun von tiefer Nacht zur Höhe des Lichts und des
Ruhmes emporgetaucht ist? „Gorki“ nennt sich der Dichter, der „Bittere“
Maxim Gorki als einer, der trotz aller Bitterniß zum Größten gestrebt
hat, ein aus der Finsterniß geborenes Sonnenkind, das mit hellen, warmen
Sonnenaugen die Verlorenen in den Spelunken geschaut hat, nicht um
*) Deutsch — vorzüglich übertragen
von A. Scholz, im Verlag von
Bruno und Paul Cassirer, Berlin.