II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 267

Gestehen wir nur: es ist auch sein letzter
gewesen!
Neue Dramen.
Fulda, Halbe, Hirschfeld, Langmann,
Möller, v. Osterloh, Schamann, Schnitzler.
„Warum nur hat man das Alles erdacht,
„Wenn's nie sich auf Erden begab ...?“
In einem vor Jahren viel gelesenen Gedicht läßt
Eckstein ein altes Mütterlein seinem Enkelkind „das
Märchen vom Glück“ erzählen. Die Alte berichtet
vom verwunschenen Königssohn und der boshaften
Fee und von der lieblichen Fischermaid, die ihn er¬
rettet, und die er zu seiner Königin macht. Und als
dann das Kind mit tiefem Seufzer fragt, warum die
Menschen so wunderbare Dinge erdenken, die sich
doch niemals zugetragen haben, erhält sie die
Antwort:
„Sei stark, Du zitterndes Kinderberz
„Und dränge die Thränen zurück!
„Uns alle hat es belogen,
„Uns alle hat es betrogen,
„Das sonnige Märchen vom Glück.“
Dieselbe resiguirte Lebensanschauung tritt uns —
in heitere Harmonie ausklingend — in einer liebens¬
würdigen Arbeit der Dresdner Schriftstellerin Adele
Osterloh entgegen. Ihrem Versstück „Das
Märchen vom Glück“*) liegt der Gedanke zu
Grunde, daß den Menschen der Vollbesitz des Glückes
nicht erreichbar ist, daß sie sich vielmehr mit einem
bloßen Scheine des Glückes, mit seinem Abglanz be¬
scheiden müssen. In recht finniger Weise wird das
Motiv an einem Zauberspiegel symbolisirt, in dessen
stets wechselnden Bildern die Armen und Beladenen
die Gewißheit einer herrlichen Zukunft finden. Durch
einen Zufall wird der Spiegel zerbrochen und tausend
Hände bemächtigen sich der Sptitter, um sie, Trost
und Schönheit spendeno, durch die weiten Lande zu
tragen.
Hat die Verfasserin des hübschen Märchens einen
dieser Zaubersplitter gefunden, der uns die schaffende
Phantasie des Dichters versinnlicht, so scheint Arthur
Schnitzler auf geheimnißvolle Weise in den Besitz
eines unversehrten neuen Spiegels gekommen zu sein.
Denn was wir in dem Stücke der Dresdner Dichterin
vermissen: die blühende Pracht des Verses, den Reich¬
tbum der Auschauung, sowie die in nere Glaub¬
würdigkeit des Märchens — das alles finden wir
in reichem Maße in Schnitzlers neuestem Drama
wieder. „Der Schleier der Beatrice"*)
zeigt uns den Verfasser der „Liebelei“ wieder, und
nicht nur als vortrefflichen Dramatiker, sondern zu¬
gleich auch als originell und kraftvoll gestaltenden
Poeten und zwar als einen glänzenden Vertreter der
neuromantischen Richtung. Schnitzler hat seine
Dichtung ein „Schauspiel“ genannt, doch dürfte sie
prägnanter als historisches Märchen zu bezeichnen
sein. Das Stück spielt in Bologna zu Beginn des
16. Jahrhunderts, in jener Zeit also, in der helle
Schönbeitsfreude und blutige Greuelthaten, be¬
geisterungsfrober Kunstfinn und lasterhafte Uppigkeit
gemeinsam herrschten. Aus diesem, vom Dichter mit
intuitiver Phantasie festgebaltenen, schwülen Milieu
wächst die Handlung wunderlich und wundersam zu¬
gleich bervor, gleich einem Grüßen aus entschwundener
Welt. Sie erzählt uns von Beatrice Nardi, die,
halb ein Kind noch, von einem großen Dichter ge¬
liebt wird, die auf dem Wege zur Trauung mit einem
wackeren Burschen den Herzog bezaubert, der sie noch
in derselben Stunde zum Weibe nimmt. Die junge
Herzogin aber eilt vom Hochzeitsmahle weg zu ihrem
Dichter, um nach genossener Seligkeit vereint mit
ihm zu sterben. Im letzten Augenblicke aber flieht
sie ins lachende Leben zurück, wabrend jener dem
Gift erliegt. Der zurückgelassene Schleier wird zum
Verrätber an ihr, und ihr Bruder, ein Verwandter
Valentins, stößt ihr den Dolch ins heiße Herz. Den
toten Dichter läßt der Herzog fürstlich begraben, dann
zieht er hinaus in den Kampf wider den anrückenden
Dresden und Leipzig. E. Pierson's Verlag.
**) Berlin, S. Fischer, Verlag.
feinen Motivirung, die Schnitzler für seine Personen
gefunden hat, sowie insbesondere in der farbensprühen¬
Widergabe des localen und zeitlichen Hintergrundes.
Die Schilderung der mänadenhaft entfesselten Lust
der Menge in der Hochzeitsnacht des Herzogs gehört
sicherlich mit zu dem künstlerisch stärksten und kühnsten,
was seit der berühmten analogen Episode in Hamer¬
lings „Abasver in Rom“ geschrieben worden ist.
In das Italien des sechzehnten Jarhunderts
führt uns auch Ludwig Fuldas anmuthiges Lust¬
spiel „Die Zwillingsschwester".') Fulda hat
sich an die sonnige Seite der großen Epoche gehalten
und die entschwundene Zeit wohl überhaupt nur aus
dem Grunde gewählt, um für seinen Märchenschwank
ein dankbares künstlerisches Colorit zu gewinnen. In
feingeschliffenen, gefällig pointirten Versen bewegt
sich das graziöse Spiel von der geistvollen Frau, die
den nach Abwechslung verlangenden Gatten in der
Maske der Zwillingsschwester aufs neue in ihren be¬
strickenden Bann zwingt. Der harmlose, an sich ja
ganz unmögliche Scherz gehört, ähnlich wie Calderon¬
Adlers kecke Verwechslungskomödie „Zwei Eisen im
Freuer“, zu den dankbaren Bühnenstoffen, die durch
die vornehme Versform aus den Niederungen der
Posse in die vornehmere Region des freien Lustspiel¬
humors gehoben werden.
In eine Welt voll starker Leidenschaften treten
wir mit Alfred Möllers Drama „Die Tragödic
der Liebe"*) Es ist die Zeit am Vorabend der
Reformation, da die Flagellanten umherzogen, auf
ihre fanatische Weise dem Herrn dieneud durch ge¬
waltsame Abtödtung aller Sinnenlust. Das wahn¬
witzige Treiben der wüsten Gesellen wird in einer
dramatisch bewegten Scene auf die Bühne gebracht,
und es gäbe sicherlich einen kräftigen Hintergrund
für die eigentliche Handlung, wenn es mit ihr in
einen inneren Zusammenhang gebracht worden wäre.
Als lose eingefügte Episode aber nimmt es einen zu
breiten Raum ein. Die mangelnde Vertraulichkeit
mit der Theaterpraxis zeigt sich ferner darin, daß die
gut angelegte Figur eines deutschen Don Juan, dessen
brutales Glück bei den Frauen den Fond des Stückes
bildet, sich nicht plastisch auslebt, sondern etwas
schemenbaft bleibt. Uibel angebracht und zeltwidrig
ist ferner die umständliche Art, mit der sich der
Mönch, eine infernalische Incarnation des bösen
Princips, dem Publicum als ein aufgeklärter Teufel
mit durchaus modernen Alluren zu erklären beliebt.
Diesen Mängeln stehen der Vorzug einer buntbeweg¬
ten Handlung und eine sichere Empfindung für
typische Tragik gegenüber. Ein ehrbares Weib ver¬
läßt um eines rohen Frauenjägers willen Mann und
Kind. Nach kurzem Rausch sieht sie sich beiseite ge¬
schoben und törtet den Verführer. Jabrelang zieht
sie ruhelos umher, eine Beute ihrer unersättlichen
Lüste und Qualen, bis die Nachricht von dem Tode
ihres Kindes das müde gebetzte Weib zu der Schwelle
des Gatten treibt, in dessen Armen die Reuige stirbt.
Noch ein anderes, in der letzten Zeit entstandenes
Drama trägt das kleine Wörtlein an der Stirn, das
mit dem Hunger zusammen die Welt regiert. Nur
spielt es in einer ganz anderen Welt. „Liebe“,
Volksstück von Franz Schamann,"") ist vor allem
ein durchaus reatistisches, ein Wirklichkeitsstück, das
seine nahe Verwandtschaft mit Dörmanns Sitten¬
komödie „Ledige Leut=“ nicht verleugnen kann, ohne
daruia die eigene Pbysiognomie preiszugeben. In
beiden, aus der Hefe des Volkes herausgeholten
Stücken treffen wir eine von Gemeinheit triefende
Alte, die sich von der Schande ihrer Kinder mästet,
dort wie hier geräth ein unerfahrener Junge in die
Schlingen der gemeinen Sippschaft, aus der er seine
vermeintlich von dem Schlamme unbeschmuti ge¬
gebliebene Blume für sich retten will. Die Blume
entpuppt sich in beiden Stücken als eine Giftpflanze
bei Dörmann blos moralisch verkommen, bei
Schamann überdies auch körperlich verwüstet — und
der gutberzige, ganz unglaublich vertrauensselige
Junge kommt mit einem blauen Auge davon. Milien,
Stuttgart, I. G. Cotta'sche Buchhandlung
Nachfolger.
Dresden und Leipzig, E. Piersons Verlag.

*) Wiener Verlag (Buchhandlung L. Rosner).