II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 330

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14. Der Schleiender-Beatrice
als sie den Tod wollte, war sie ungetreu, da sie das
zerstörten Illusionen und seinen Pakt mit
Leben wählte?
dem Dasein macht, der sich sagt, daß es
Ach, sie tat wohl weder das eine, noch tat sie
weiser, vor allem wohltätiger sein kann, die Augen¬
das andere; sie tat es beides oder gar nicht. Was
zu schließen, statt mit aufgeregten Sinnen zu forschen,
sind die Worte, die starren Schachtelbegriffe unseres
daß es nicht auf unser Urteil, auf unser Loben und
Denkens, daß sie ein Leben, wie dieses, einfangen
Verdammen ankommt, sondern auf das, was wir
wollen, das hinfließt gleich dem schillernden Strom,
auf der Welt, wie sie einmal ist, zu schaffen ver¬
der immer derselbe scheint und immer ein anderer
mögen, der schnell ergreift, um ebenso schnell
ist! Was soll ein Entweder=Oder, wo es sowohl¬
fahren zu lassen, was er doch nicht halten kann. Er
als auch heißen muß, was soll ein Ja oder ein
ist im letzten Sinne der Sieger innerhalb dieses
Nein, wo jedes Wort der bestimmten Farbe der
Lebens.
Eine Weile ist es das Weib Beatrice.
Entschließung entbehrt?
Beide Männer denken nach, suchen zu ergründen, wo
Sie log dem Herzog und sie log dem Dichter
nichts zu ergründen ist. Beatrice mmmt nur einfach,
und sprach doch beiden Wahrheit, sie betrog den
was sie findet, einen Dichter und einen Herzog. Beide
einen mit dem andern und war doch beiden treu —
Männer wollen nach ihren anfänglichen Illusionen
vielleicht liebte sie als dritten, wenigstens für einen
ihr alles sein, sie ganz besitzen, sie ganz ausfüllen;
Nachmittag, sogar den biedern Handwerksmann,
sie ist zufrieden mit dem, was da ist, mit dem, was
dem ihr Bruder sie zur Sicherheit noch kurz
ihr
gerade jeder gibt. Das ist ihre Stärke; ihre
vor seinem Scheiden anverlobte. Sie konnte
Minderwertigkeit ist ihre Überlegenheit. Erst nachdem
sterben, wenn ihr vor Entzücken, vor innerem
der Herzog sie in diesem ihrem Wesen erkannt hat,
Jauchzen die Seele zu bersten drohte,
ist er endgültig über sie hinaus:
mußte leben, mußte taumeln im wilden Rausch
wir nannten Dein Tun
der Lüste, wenn ihr der Tod sein Grinsen zeigte.
Betrug und Frevel und Du warst ein Kind!
Alles Äußerste liegt ihr so nahe wie das Nächste.
Erst jetzt ist er der Überlegene, der neuen Taten
Sie nimmt das Bedeutende hin wie das
wie frischen Morgenlüften, wie neuem Leuchten aus den
Unbeträchtliche, das Unerhörte wie den Alltag.
Was ist
Höhen entgegenschreitet:
ihr ein großer Dichter, was ihr
ein Herzog! Reiche können zerkrachen und auf den
Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit,
Trümmern neue Kronen wachsen — es ist ihr nicht
Und noch der nächste Augenblick ist weit!
mehr, als daß ihr Spitzentuch zerreißt. Alles Be¬
deutende sinkt vor ihr dahin, sie schreitet in ihrer
Die drei Gestalten der Beatrice, des Herzogs und
Ahnungslosigkeit souverän darüber hinweg. Mit
des Dichters sind in Schnitzlers Stück ausgezeichnet
einer unbewußten Grausamkeit, mit einer nur in der
herausgearbeitet. Sie sind in ihrer ganzen Anlage
Kindlichkeit begründeten Gleichgültigkeit, in der man
und Charakteristik nicht bloß „gewollt“ sondern auch
es zuweilen wie voll Ahnung als einen Aus¬
„gekonnt“.
Sie sind es so sehr, daß der lebhafteste
gleich der zu
schreienden Disharmonien auf¬
Freund dieses Werkes wünschen muß, sie aus dem
gereizten sozialen Gegensätze zu spüren glaubt, als die
vielfach
unbedeutenden Gewirr der übrigen
stille Rache der unteren Din#e an den oberen. Sie
breiten Szenen, des angeblichen Renaissance= und
ist ja nur Trieb, nur Pflanze,
sie will nur
Bologneser Treibens
herausgeschält zu sehen.
lieben, nur leben und da sein, nicht denken und nicht
Dann erst würde dieses Stück so hell leuchten, wie
wählen. Ist etwas in ihrer Brust, das gerade ein
es verdient und wirklich als Schnitzlers reifstes da¬
Dichtersmann, ein Herzog befriedigt — warum nicht
stehen. Fast jeder Zug verrät den feinen Kopf, der
er so gut wie ein anderer? In schönen Versen hat
künstlerisch klüger und weitsichtiger ist, als Haupt¬
Schnitzler es an verschiedenen Stellen selber klar
mann und Sudermann zusammengenommen, der
aussprechen lassen.
nur des sozusagen brutalen und dumpfen dramatischen
Du bist
Urdranges des letzteren und der bunten Fülle,
Zu staunen nicht gemacht. Niemals hat Dich
der reichen, spielerischen Menschlichkeit des ersten
Des Daseins Wunder namenlos erschreckt,
entbehrt. Die Verse sind von einer klaren,
Nie bist Du vor der Buntheit dieser Welt
klugen Ruhe, die den Gedanken mühelos und
In Andacht hingesunken, und daß Du,
restlos durchformt, wie es weder Hauptmann noch
Die Beatrice ist, und ich, Filippo.
Sudermann kann, ohne konventionelle Anlehnung,
Sich unter den unendlich Vielen fanden,
ohne Banalität, ohne den ganzen Prast überlieferter
Hat nie mit tiefem Schauer Dich erfüllt.
Jambenfloskeln, bei dem man sich vor Schmerz die
Und daß Du Fürstin von Bologna bist,
Ohren zuhält. Es sind Schnitzlersche Verse man
Macht Dich so wenig staunen, Beatrice,
hat nirgend das Gefühl, wie heute bei fast allen
Wie wenn sich eine Mück' auf Deine Hand setzt.
Versstücken, daß Schlegel=Baudissins Shakespeare
Und an anderer Stelle:
hat Pate stehen müssen. Vielleicht ist Schnitzlors
„nächster Augenblick“ nicht mehr weit.
Es ist Dein Wesen, daß mit jedem Pulsschlag
Durch Deine Adern andre Wahrheit rinnt.
Paul=-Mahn.
Der Titel „Schleier der Beatrice“ ist wohl nur
hymbolisch zu nehmen für eben dieses Verworrene,
Nebelhafte, welches das Wesen der Beatrice über¬
schleiert. Denn im Stück ist der Schleier — nur
in Schleier, dessen Verlust und Wiederfinden nur
in Mittel der Handlungsführung wird; er kann
hier nicht etwa symbolisch für die Reinheit der Be¬
itzerin stehen.