II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 370

„Lebentige Stunden“ gezeichnet hat. Das Leben der Wirklich= un“
keit verwundet diesen Menschen der Nerven und der Stimmung sllehe
auf Schritt und Tritt, und in der Welt unserer Moral tappt e Mit¬
er wie ein Blinder umher und merkt nicht, wenn sein Handeln
den Menschen als schurkisch erscheint. Was er genießt, ist das
Werk seiner Phantasie. Und als die Wirklichkeit doch zu über¬
mächtig an die verschlossene Pforte seines Inneren klopft, als
schließlich diese Pforte aufspringt, und die Wirklichkeit und er
selbst in ihr mit erbarmungsloser Klarheit dasteht, da packt
ihn der Lebensekel und der Ekel vor sich selber, und er gibt
sich den Tod. Er hat erkannt, daß er seiner Verlobten mein¬
eidig geworden ist, und daß die, um derentwillen er sie ver¬
raten hat, Beatrice Nardi, nicht ein Märchenwunder ist und nicht
die höchste Liebe kennt, wie seine Phantasie ihm vorgegaukelt
hat; denn als er sie auf eine ernste Probe stellt, da zeigt sie,
wie sehr sie am Leben hängt, und wie furchtbar ihr der Tod
ist. Beatrice ist in Vielem der gerade Gegensatz zu Filippo.
Sie ist naiv, während er der Typ eines modernen, kraftlosen
Reflexionsmenschen ist. Auch sie steht in gewissem Sinne wie
er jenseits der Moral, aber nicht weil sie in einer anderen
Welt lebt, wo jene Moral nicht gilt sondern weil sie über¬
aupt noch nicht zum Leben erwacht ist, ein Kind, das Gutes¬
und Böses kut, ohne es zu wissen und zu wollen: das Weib
als reines Triebwesen. So folgt sie dem schönen Dichter, als
sie ihn zum ersten Male beim Tanze sieht, so überläßt sie sich
gleich darauf dem Triebe, der sie zu dem großen Herzog
Bentivoglio zieht, so fordert sie von ihm, daß er sie zur
Herzogin mache, so läßt sie sich von Filippo fortschicken, und
so eilt sie von der Hochzeitstafel wieder zu ihm hin, um mit
ihm zu sterben. Als sie dann aber auf einen Augenblick dem
Tode wirklich ins Antlitz sieht, da erwacht sie zum ersten
Male zum Leben. Aber wie bei Filippo ist dieser Augenblick
nicht nur der Wendepunkt ihres Lebens, sondern auch zugleich
der erste Schritt zum Tode. So wie er kann sie das Leben,
nachdem sie einmal sehend geworden, nicht mehr ertragen und
bittet jetzt um den Tod, der ihr vorher als das Unerträglichste
erschienen war. Und wieder ein anderer und doch in der
Naivität seines Handelns mit ihr verwandt ist Herzog
Bentivoglio, in dem der Dichter einen echten Renaissance¬
Menschen hat zeichnen wollen, der sein ganzes Wesen
auf das Ausleben aller seiner Kräfte und auf das
Auskosten jedes Genusses gestellt hat. Keine Gefahr schreckt
ihn, und, ob das Heer Cesare Borgias seine Stadt Bologna
am nächsten Tage stürmen wird, kümmert ihn wenig: die
letzte Nacht soll seine Hochzeitsnacht mit Beatrice werden, die
er auf andere Weise nicht besitzen kann, und am anderen
Morgen wird er zu sterben wissen, wie er zu leben verstanden
hat. Aber auch für ihn kommt der Augenblick der Erkenntnis
an der Leiche Filippos, und er lüftet den Schleier vor den
letzten Geheimnissen, und so geht er, er selbst in der Fülle
seiner Kraft, aber durch die Erkenntnis doch ein anderer ge¬
worden, stolz wie ein Sieger in den Todeskampf.
Nun sind aber leider die drei Gestalten nicht das geworden,
was sie haben werden sollen. Am wenigsten Bentivoglio.
Kraftnaturen zu gestalten, fehlt unserem gebrochenen, sensitiven
und zum Handeln nicht geschaffenen Dichtergeschlecht die Kraft.
Sie haben Sehnsucht nach Kraft, aber sie können Kraft nicht
darstellen. Und so sind denn ihre Helden Philosophen des
Individualismus, aber keine Individualisten. Sie wissen
genau in ihrer Seele Bescheid und sprechen aus, was sie
unbewußt und ohne vieles Reden tun sollten. So auch
dieser Bentivoglio. Bei Filippo und Beatrice, zumal bei
dieser, hören wir echtere Töne, aber im ganzen sind
doch auch sie nicht lebendig geschaute Geschöpfe, und sie
sind nicht aus jenen Tiefen der geheimnisvoll waltenden
Natur geboren, deren Hauch uns mit Schauern umweht.
Man merkt die Absicht.
Und auch bei der Ausführung
des Zeitbildes merkt man die Absicht, und so will sich das
Bild nicht zu einer lebendigen Einheit gestalten. Auch die
Dreiheit der „Helden“ stört, wenigstens beim unmittelbaren
Eindruck; später merkt man wohl, daß eine Einheit der Idee
vorhanden ist. Das Drama nach dem Schleier zu benennen,
den Beatrice als Hochzeitsgabe Bentivoglios empfangen und
bei ihrem letzten Besuche in Filippos Hause verloren hat, und
dessen Fehlen dann den Argwohn Bentivoglios weckt und die
Katastrophe heraufführt, —
dieser Gedanke zieht das Stück
ein wenig in niedere Sphären hinab.
Ein weiterer
Grund, der eine große Wirkung nicht aufkommen läßt, ist die
chaotische Fülle des Stoffes, und endlich fließen auch die Verse
zu schwer, um uns fortzureißen.
Die Aufführung war, entsprechend den für solche Aufgaben
nicht geschaffenen Darstellern des Deutschen Theaters, minder¬
wertig. Weit über allen stand Fräulein Triesch, eine der
wenigen Künstlerinnen, die mit der nachtwandelnden Sicherheit
genialer Begabung immer den rechten Ton treffen. Was sie
schafft, ist von innen heraus geschaffen und als ein Ganzes
erschaut. Der Dichter wurde gegen den Widerspruch einer
ziemlich großen Opposition oft gerufen.
S.
ee