II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 382

14. Der Schleier der Beatrige
schlürfen wird. Das lebensprühende Bologna angesichts des
großen Sterbens — der Hintergrund paßt ganz zum Bild
der Beatrice. Und just im Hinblick auf den sichern Unter¬
gang packt alles Volk ein toller Lebens= und Liebestaumel.
In dieser letzten Nacht wird der Herzog das schönste Kind
aus Bolognas Gassen zu sich auf sein Schloß entbieten.
Beatrice ist es, die er sich erwählt. Sie, die der. Dichter
ihres unkeuschen Traumes willen noch eben verstoßen, erhebt
er zu seiner Gemahlin. Von der Hochzeitstafel an der Seite
des Herzogs aber flüchtet Beatrice, die allzeit und instinktiv
Ungetreue, zu ihrem Dichter zurück. Sobald sie sein Gemach
betreten, steht sie angesichts des Todes, — wie diese Menschen
alle ein paar Stunden später dem Tod entgegengehen.
Auf solchem Hintergrunde und auf solche Lebenshöhen
erhoben, gewinnen die Gestalten, wenn nicht Größe, so doch,
Glanz. In gehobener, und doch nicht farbloser Diktion hat
Schnitzler ihnen das Zeitgewand gewoben. Im Charakter
der Beatrice hat er, losgelöst von allem zeitlich Bedingten,
das gezeichnet, was einen Frauentypus ausmacht, der immer
war und immer wiederkehren wird. Eigenartig, antheil¬
nahmeheischend gibt sich ihr Verhältniß zu dem Herzog und¬
dem Dichter. Psychologisch sind die Fäden ganz sein ge¬
sponnen.
Warum also blieb die Bühnenwirkung aus?
Es ist keine Frage, Schnitzler hat, um das Renaissance¬
Zeitbild leuchtend hervortreten zu lassen, die Handlung= allzu
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sehr komplizirt. Es geschieht zu vieles, das willknelich an¬
muthet, die Fäden wirren derart durcheinander, daß das
Gewebe undurchsichtig wird. Schnitzler hat die Motive
wiederholt, die Gegensätze gehäuft. Um Beatrice anzu¬
gehören, hat der Dichter seine Braut, um seinetwillen
Beatrice ihren ersten Verlobten aufgegeben. Eine Kontrast¬
figur tritt neben Beatrice in ihrem Verhältniß zu dem Dichter:
eine Kurtisane, die mit jenem zu sterben gewillt ist. Eine
andere Kontrastfigur stellt sich neben sie in ihrem Ver¬
hältniß zu dem Herzog: Rosina, Beatrices eigene Schwester,
die vielen angehört hat und doch nur diesen Herzog mit
brünstigem Verlangen liebt.
Solch eine Häufung der
Kontraste aber gibt dem dramatischen Bilde naturgemäß
etwas arrangirten Anstrich. Man vergißt das Leben über
dem psychologischen Kalkül. Was die Handlung an Mannig¬
faltigkeit gewonnen, verlor sie an innerer Kraft.
Auch ist es Schnitzler nicht gelungen, diese komplizirte
Handlung in rechter Weise in Fluß zu bringen. Die
Exposition des bewegten Hintergrundes und damit den
Stimmungsklang, auf den es ankommt, gibt erst der zweite
Akt. Hinter nebensächliche Personen treten die Haupt¬
gestalten zeitweise ganz zurück. Entscheidende Entschlüsse
fassen sie hinter den Kulissen. Durchaus ist es in Beatrices
Charakter begründet, daß sie die hochzeitliche Tafel, an die
sie sich so seltsam ahnungsvoll gesehnt, heimlich verläßt, um
zu ihrem Dichter zu flüchten: immer fühlt sie sich ja in den
Armen eines Mannes zu dem andern hingezogen. Aber
wie sie zu dem Entschlusse kommt, wie sich die Wandlung
in ihr vollziehi, ist nirgend angedeutet. Genug, Beatrice taucht
ganz plötzlich zu nächtlicher Unzeit im Gemach des Dichters
auf. Um die Situation zu begreifen, muß der Zuschauer
den psychologischen Kalkül nachrechnen und sich sagen: richtig,
solch plötzlicher Entschluß war in ihrem Charakter wohl be¬
gründet. Im Drama aber sollte, just in entgegengesetzter
Weise, die Handlung als solche Licht auf die Charaktere
werfen; das allein wirkt überzeugend; bleibt Schnitzler auch
dem nachprüfenden Verstand gerecht, so schädigt er doch die
augenblickliche Illusion. Und Illusion zerstörend ist auch die
zeitliche Zusammendrängung, die er geschaffen: all das geht in
einer Nacht vor sich. Jeder folgende Akt scheint gegen den vor¬
hergehenden zurückzugreifen, oder es sind doch die Minuten so
ängstlich berechnet, daß der Zuschauer sich weiter vorgerückt
glaubte, bis ihm klar gemacht wird, daß der Zeiger in¬
zwischen stillgestanden. In der dramatischen Handlung aber
sollte sich die Zeitfolge nur aus den Geschehnissen selbst
ergeben. Auf der Bühne herrsche ideale, nicht reale Zeit.
Wohl besitzt Schnitzler reiche Gestaltungskraft, aber er
ist vielleicht allzu sehr Psychologe; er liebt die gedankliche s a
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Spekulation, sie ist ihm Bedürfniß. Das gibt seinen
Werken häufig einen Reiz mehr, es mindert andere Male
ihre Ueberzeugungskraft. Der Gang der Handlung beruht
im „Schleier der Beatrice" auf so vielen, feinen Hilfs¬
konstruktionen, daß die Bühnenwirksamkeit zum mindesten
sich nicht breit und nicht voll entwickeln kann.
Aber, nachdem der Vorhang gefallen und das laute
Spiel vorüber, tauchen die Gestalten, die Schnitzler ge¬
schaffen, vor den Augen wieder auf. Man bewundert die
feine Künstlerhand, die ihr Innenleben bloßgelegt hat. Man
kostet den Stimmungsreiz aus, dem der Wiener Poet nach¬
gab, da er sich und die Menschen um ihn in Gestalten der
Renaissance wieder suchte.
Es nimmt sich das Bild
der kleinen, seelenlosen
Beatrice im schweren, goldenen Renaissance=Rahmen gar
wehmüthig und gar seltsam aus.
Ernst Heilborn.