II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 397

k daß in einer Stadt, in der Milonen
in der Armut und Elend mit geballten Fäusten an den hellerleuch¬
teten Fenstern Schicksalsglücklicherer vorüberschleichen, eine so jeden
Wertes bare Mode derartige Dimensionen annimmt? In Berlin,
woselbst jahrein jahraus ernste Dichterwerke unter dem Rotstift des
universell verbildeten Zensors ihr Leben aushauchen, wo dem politi¬
schen Meinungsaustausch zwischen Presse und Publikum Zaum und
Zügel angelegt werden, so fest wie nirgendwo, feiert der „Kuchen¬
u tanz“ seine Triumphe und keinem vom Staat in Sold genommenen
Moralisten wird es auch nur einfauen, in den scharfen Schenkel¬
konturen der holden Weiblichkeit irgend etwas Anstößiges zu suchen.
Im Gegenteil; das ist Leben, frisches, temperamentvolles Leben, und
es unterdrücken, hieße gegen einen der wesentlichsten Gesetzes¬
paragraphen sündigen.
Hier wäre es seitens unserer Theaterleiter wohl angebracht,
das Cake=Walk=Interesse durch die Aufführung guter, lebensfähiger
Bühnenwerke ein wenig einer besseren Sache zuzulenken. Doch mit
Schaudern sah ich, daß auch unsere Theaterdirektoren in ihrer Art
den „Kuchentanz“ kultivieren, d. h., daß sie in der ab gelaufenen
Dekade Stücke aus dem Taufbecken hoben, die in Bezug auf Bonität
und Grazie dieselben Qualitäten boten, wie Amerikas importierter
Niggertanz. Wer mich z. B. zu der neuesten Attraktion des Herrn
v. Hülsen ins Kgl. Schauspielhaus begleitet hat, muß die Richtigkeit
meiner Behauptung in ihrem ganzen Umfange bestätigen. Die
neueste Attraktion Hülsens, benamset „Die Siegesfeier“, ist dem
Maler=Poeten Hermann Katsch zu verdanken, der sich schon einmal
durch die Aufführung seines Schauspiels „Die Kollegin“ unangenehm
bemerkbar gemacht hatte. Der Schauplatz, auf dem Katschens
dramatisch=korumpierte Helden agieren, ist das alte Rom, dieselbe
Stätte, auf welcher schon so viel Dilettantenblut verspritzt worden
ist. Da wird nun ein Langes und Breites von einem gewissen
Herrn Pacuvius erzählt, der Maler und Dichter in einer Person,
gewissermaßen das Spiegelbild seines geistigen Urhebers abgeben
sollte. Leider wurden sowohl Ur= wie Spiegelbild seitens einiger
Beherzter aus dem Publikum weidlich angepfaucht. Trotzdem erschien
Herr Katsch dankend auf der Szene. Ob ec wohl den richtigen
Blick dafür hatte, daß die „Siegesfeier“ fül ihn nichts weiter als
eine schleunige Retirade bedeuten sollte? Von den bemitleidenswerten
Darstellern seien Hermann Böttcher, Georg Molenar, Arthur
Kraußned und Nuscha Butze umso lobender hervorgehoben,
als sie ihren wenig dankbaren Rollen eine über das Mittelmaß
hinausgehende Aufmerksamkeit zuwendeten. Ich glaube nicht, daß
der Souffleur das „Siegesfeier"=Buch mehr als dreimal auf sein
Pult legen wird.
Im Gegensatze zu der Hofbühne hat sich das Deutsche Theater
ein literarisches Verdienst um ein bisher stiefmütterlich behandeltes
Werk Arthur Schnitzlers erworben. Ich meine die Aufführung des
fünfaktigen Schauspiels „Der Schleier der Beatrice". Man kennt
die wechselvollen Schicksale, welche dieses Werk zuerst bei Herrn
Schlenther und späterhin bei den verschiedenartigsten Direktoren
des In= und Auslandes erlebt hat. Hier lag nicht zum erstenmale
der Fall vor, daß Bühnengewaltige einem bereits akkreditierten
Autor aus kleinlichen Gründen Tür und Haus verschlossen, daß sie,
von „Geschäftsprinzipien“ durchdrungen, nur dem kassamachenden
Genius des Dichters ihren wohlmeinenden Tribut zu zollen ver¬
standen. Hier hat Otto Brahm, der keineswegs allzu Liebenswürdige,
eine rühmliche Ausnahme gemacht. Und er ist somit der zweite
Direktor geworden, der Schnitzler mit dem „Schleier der Beatrice“
einen kräftigen, wenn auch nicht gänzlich einwandfreien Erfolg
brachte. Schon mit der ersten Inspiration zu dem „Schleier“ hat
Schnitzler ein Gebiet betreten, dessen ungehinderte Durchquerung ein
über die gegenwärtige Bühnenproduktion weit erhabenes Genie er¬
heischt. Eine gewaltige Idee, ein grandioser, aber fährnisreicher
Stoff war es, an den der Dichter in einer Stunde der Selbstüber¬
schätzung herantrat. Sein in Milieuschilderungen glänzend bewiesenes
Talent und sein junger, und dennoch schon zu hoher Blüte gelangter
Ruhm waren seine Leitsterne. Und als er auf halbem Wege stand,
da erblichen sie und ließen ihren Folger im tiefen Dunkel zurück.
Dennoch hat sich Schnitzler bis zum Ziele durchgetappt. Daß dabei
die Bekenner des durch Schnitzler vertretenen Jung=Wiener=Evan¬
geliums herbe Enttäuschungen erlebten, darf nicht verschwiegen
werden. Jeder Geist ist eben an einen bestimmten Raum gebannt,
auch der Arthur Schnitzlers. Möge er es sich in Zukunft an diesem
wahrlich genug weiten Raume genügen lassen. Was sonst im
Deutschen Theater nicht der Fall, trat diesmal ein: die Darstellung
versagte vollends. Rittner, Dumont, Kaysler, ja selbst
Basssermann kämpften wohl standhaft gegen Schnitzlers stim¬
mungsvolle, von wahrer Kunst getragene Verse an, jedoch ver¬
gebens: es war eine Unterlage, die mit einer kopflosen Flucht endete.)2