II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 446

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14: Der Schleien derBeatrice
Kunstberichte.
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Trauer neben den Tränen, das Mitleid neben dem Zorn, das Lächeln
neben der Anbetung Platz finden, so ein vollkommenes Spiegelbild der
Menschheit schaffend.“
Was dieser schwärmerische Liebhaber der Antithese und der schönen
Periode hier sehnsüchtig als Kunstideal aufstellt, hat er selber sogleich
schlagend als Akopie gebrandmarkt, durch die Tat widerlegt. Renan blieb
mit seinen philosophischen Dramen im Wollen stecken. Der Theaterkeufel,
der nachweislich schon „manche tausend Jahre an dieser harten Speise
kaut“ — hätte ihn darüber belehren können, daß die Thespiskärrnerei eine
Massenkunst ist, die nicht für die letzten Gedanken, ja nicht einmal für die
großen, wenn überhaupt für Gedanken taugt, die zu eng verknüpft ist mit
den räumlichen Bedingungen der kubischen Bühne, mit den Bedürfnissen
der hohlen Menge und ihrem Geschmack, als daß hier in „absehbarer Zeit“
auf Wandel zu hoffen wäre. Und wenn schon ein Geist wie Renan an
dieser Aufgabe jämmerlich scheitert, was bleibt da den Liliputanern für
Hoffnung? Renans philosophische Dramen sind Zwitterwesen, die zwischen
Buch und Bühne nicht leben und nicht sterben können. „Die Abtissin von
Jouarre“ wäre unter ihnen immerhin noch am geeignetsten für das Theater,
weil sie im Gegensatz zu dem phantastischen Wust der übrigen schlicht und
menschlich bleibt, ja die Fabel, aus dem dankbaren Milien der französischen
Revolution geschöpft, wäre wohl einer dramatischen Gestaltung günstig,
aber so wie Renan den Stoff anfaßt, fügt er sich nicht zu lebenden Bildern,
es sind Worte, Worte, Worte, die im Lauf der Stunden ermüden und uns
als Mißvergnügte aus dem Theater entlassen. Typisch für Renans dra¬
matischen Pulsschlag ist der zweite Akt, dem Stoff nach der Höhepunkt des
Dramas, auf dem die Abtissin und ihr jugendlicher Liebhaber die letzte
Nacht vor ihrer Hinrichtung miteinander verbringen und sich ihrem zugleich
ersten und letzten Liebesrausch erst hingeben zu dürfen glauben, nachdem
sie das ethische Für und Wider ihres Falles reiflich erwogen und in einer
Dissertation festgelegt haben. Angesichts des Todes, glühend vor Liebe,
müssen diese beiden Anglücklichen nach des Dichters Geheiß endlose Vorträge
halten, in wohlgesetzten Perioden ihre Leidenschaft mit Vernunftgründen
erklären und in wohlgeprägte Thesen, Hypothesen. Syn= und Antithesen
ausmünzen. In seinem Streben nach Vereeistigung hat Renan alles getan,
das zweifellos Dramatische des Stoffes auszuschalten, szenischen Aufbau,
Steigerung der Handlung verschmäht er, von dem Hauch jener großen Zeit
ist nichts zu spüren, die Charakteristik bleibt nachlässig und schemenhaft, die
Personen sind lediglich Mundstücke für philosophische Fanfaren.
Noch verfehlter als diese Auferweckung eines Toten war eine andere,
welche die Lessinggesellschaft mit „II candelajo“ von Giordano Bruno
versuchte — sie, die einige Wochen vorher mit der Ausschürfung von
Hebbels „Diamant“ eine so wackere Tat vollbracht hatte, von der
freilich unsere Herren Theaterdireksoren noch immer nicht Notiz nehmen
wollen. Von Brunos Jugendwerk indessen ist nur zu sagen, daß man
hoffen darf, es werde nach diesem offenkundigen Galvanisierungsversuch nun
für einige Jahrzehnte wieder Ruhe haben vor dramatischen Schatzgräbern.
Der Nolaner schrieb dies leichte, lockere Stück noch als Dominikanermönch
und also dem praktischen Bühnenbetrieb einigermaßen fernstehend. Der
derbe Jugendschwank hat für uns nur noch ein kulturgeschichtlich=psycho¬