II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 482

Feuilleton.
Berliner Theaterbrief.
(„Der Schleier der Beatrice“. Schauspiel in fünf Akten von Arthur
Schnitzler. (Deutsches Theater.) — „Der reine Mann“. Komödie von
Felix Dörmann. (Neues Theater.)
„Die Gerechtigkeit“. Komödie
in vier Aufzügen von Otto Ernst. (Königliches Schauspielhaus.)
„Die
Siegesfeier“
Historische Komödie in vier Aufzügen von Hermann
Katsch. (Königliches Schauspielhaus.)
„Dornröschen“. Märchenspiel
in vier Akten von Marx Möller. (Berliner Theater.) — Matinéespenden.)
In die Langweile der Spielzeit, die sich ohne Saft und Kraft
ihrem wahrscheinlich ruhmlosen Ende zuschleppt, hat die Aufführung
von Schnitzler's „Schleier der Beatrice“ wenigstens etwas
lebendige Bewegung gebracht. Das Stück ist ein Schmerzenskind des
erfolgverwöhnten Autors geworden, und gerade deswegen scheint er
es so liebgewonnen zu haben. Aber der praktische Schlenther, der sich
um Beatricens willen mit dem Dichter überwarf, war im Rechte,
als er dem Drama die wirksamen Theatereigenschaften absprach. „Der
Schleier der Beatrice“ ist Schnitzler's schwächstes Werk. Ist es
deshalb, weil es sein stärkstes werden sollte?
Das bewußte Wiener Mädel, die süße Heldin vom Kärntner¬
ring, steht auch im Mittelpunkte der neuen Renaissance=Tragödie. Sie
ist angeblich in Bologna geboren, doch ihr lieblich=teuflischer Leicht¬
sinn, ihre unbewußte Verderbtheit, die doch eigentlich Unschuld
genannt werden muß, all ihre blumenhafte oder animalische Ahnungs¬
losigkeit weisen auf die Dämlein Anatols und seiner Genossen hin.
In Bologna hielt Beatrice es mit einem genialischen Poeten, der
sich nur noch um sich und sein Schaffen, nicht mehr um die Außen¬
welt kümmert. Sie verläßt ihn, weil Filippo es nicht ertragen kann,
daß seine Liebste von einem Herzog brünstig träumt. Wie das holde
Kind nun mit einem andern, ernsthaften Verehrer zur Trauung gehen
will, tritt der schon erwähnte Herzog dazwischen und macht sie zu
seiner Gemahlin. Vom hochzeitlichen Prunkfeste zieht es die Hexe wieder
zu ihrem Filippo. Sie will mit ihm in den Tod gehen. Als er
aber den Giftbecher geleert hat, da schauderte sie vor dem Ende
zurück und eilt in neuerwachter Lebenslust zum herzoglichen Gatten.
Unglücklicherweise hat sie bei Filippo ihren bräutlichen Schleier
liegen lassen. Mit grausamer Marter bedroht, erklärt sie sich bereit,
den Gebieter dahin zu führen, wo der Schleier liegt. So erhält
das Stück naturgemäß einen großen romantischen Schluß: Der
Poet zieht seine Geliebte mit sich, Beatricens Brüder wollen die
Schmach der Schwester nicht länger ertragen und tödten die Ver¬
führerin. Wenn der Vorhang dann endgiltig niederrollt, blicken wir
in einen Morgen voll Blut und Brand; Cesare Borgia liegt mit
zehnfacher Uebermacht vor Bologna, und Niemand wird dem Ge¬
metzel entgehen.
Schnitzler hat alles Rüstzeug der großen Tragödic angethan.
Der wilde Hintergrund, die Schatten des Todes vor und über jeder
Szene, gewaltige Leidenschaften, dämonische Naturen in heftigem
Kampfgedränge. Welch ein Vorwurf: Der belagerten Stadt ist nur
noch eine Nacht geschenkt worden, die dem Leben gehören soll, wie
der nächste Tag dem Tode. Ein Ueberschwang der Freude, nicht
zu fassen, und bleiches Entsetzen; jedes Kind, das dieser Nacht ent¬
springt, soll adlig sein, so befiehlt und verspricht der liebestolle
Herzog den Bürgermädchen, und morgen wird das Kind im Mutter¬
leibe nicht geschont werden. Von diesem schimmernden Prospekt heben
sich gut ersonnene Gestalten ab. Der Herzog, der ein schönes Dirnlein
zu seiner Gemahlin macht, weil sie zwölf Stunden später doch Witwve
sein wird: Beatrice in ihrer verruchten und doch so verlockenden Un¬
weiblichkeit; Filippo, der weltabgewandte Reimschmied
man
sollte meinen, aus so guten Ingredienzien ließe sich leicht ein
treffliches Theaterstück brauen. Aber nichts davon. Unter der Hand
wird hier alle Kraft verzettelt. So wirr durcheinander sind die
Fäden gelegt, so unklar ist der Aufbau und so zögernd entwickelt sich
die zwiespältige, sich selbst kreuzende und hemmende Handlung, daß
der Zuschauer wie vor einer schlecht ersonnenen und schlecht durch¬
geführten Schachaufgabe sitzt. Der Autor hat diesmal zu viel geben
wollen. Er häuft Motive und Episoden, erschöpft sich in Schilderungen,
mit denen er Zeitkolorit hervorzuzaubern hofft, und gebraucht ganze
Viertelstunden, um undeutlich zu sagen, was Nietzsche und selbst
Golineau mit zwanzig Worten eindringlich und leuchtend darstellten.
Niemand wird die zahlreichen Schönheiten des Dramas leugnen
können. Ein gebildeter Geschmad ergötzt sich herzlich an der Vers¬
sprache Schnitzler's, die in mühsam=redlicher Arbeit, manchmal wie
mit dem Schmiedehammer gefertigt ist. Man sieht noch die Spuren
der Hammerschläge auf dem kunstvoll verschlungenen und gewundenen
Eisen. Vorhin bereits habe ich die Konzeption der Charaktere, die
glühende Bewegtheit der Idee hervorgehoben. Und doch — schade
um all diesen Aufwand! Der Reiche war nicht stark genug, seinen
Schatz zu verwalten und zusammenzuhalten.
Neben Schnitzler's Werk haben die dramatischen Erzeugnisse
der Anderen, die letzthin bei uns über die Bretter zogen, kaum Ein¬
tagsbedeutung. Felix Dörmann's „Reiner Mann“ wird das
erfreuliche Schicksal seiner „Ledigen Leute“ nicht theilen, denen war
es nämlich bescheert, sechs oder neun Monate nach ihrer erfolglosen
Erstaufführung eine zweite Première und dann einen Sieg zu er¬
leben, der hundertundfünfzig und mehr Wiederholungen sicherte. Der
„Reine Mann“ dagegen siel hoffnungslos ab. Dörmann verulkt das
liebe Gäuschen, das vom künftigen Ehegemahl unbedingte Keusch¬
heit verlangt. Die strenge Jungfrau muß zuletzt erkennen, daß der
Unbewußte, den die gesammte Hotelgesellschaft ihr aufschwatzt, ein
ganz gerissener Lebemann ist. Sie nimmt ihn aber dann doch, theils
weil sie ihn bessern will, theils weil sie ihn liebt. Mancherlei Humore
spielen in dem Stück, leider meist einander widersprechende Humore.
Recht fein ist beispielsweise die Kontrastfigur des Renommirwüstlings,
der sich im geeigneten Moment als Unschuldswurm entpuppt; recht
unfein dünkt mich die Erfindung, daß zwei Fahrstühle sich unver¬
muthet beleuchten und bewegen, als zwei liebende Menschenpaare zu
ungestörtem Geplauder hineingekrochen sind. Der Spaß ist styllos,
und das läßt keine Behaglichkeit aufkommen
Otto Ernst's Gerechtigkeit“ haben wir später denn irgend
eine andere deutsche Stadt schaudernd erlebt. Zuweilen empfiehlt sich
der Aufenthalt in Berlin also doch. Das völlig mißrathene und
gemeingefährlich langweilige Stück erzielte sogar an unserem König¬
lichen Schauspielhause und obgleich der Kaiser es zweimal mit seiner
Gegenwart beehrte, doch nur vier oder fünf Aufführungen. Was
Wilhelm II. anbelangt, so glaube ich jetzt in der That daran, daß
er auch die furchtbarsten Strapazen lächelnd verträgt, denn man hat
ihn während der „Gerechtigkeit“ lächeln gesehen. Amüsanter verlief
der Abend im Königlichen Schauspielhause, der Hermann Katsch's
„Siegesfeier“ brachte. Es handelt sich da um eine Art Selbst¬
bekenntniß: Der Dichtermaler Katsch schildert liebevoll, wie sein
auch malender Held zu Ehren des großen Scipio, des Karthago¬
Zerstörers, ein Trauerspiel schreibt, bei der Gelegenheit gleich
die Versenkung erfindet und durch die
skandalöse Bekneiptheit
eines Mimen beinahe um den Erfolg
gebracht wird. Na,
Scipio ist verständig und kauft den armen Pacuvius aus
der Sklaverei los. Während des harmlosen Stückes entrüstete sich
ein Jüngling und begann zu pfeifen, worauf ihn ein blonder Hörer
prügelpädagogisch zur Ordnung rief und das unparteiische Publikum
begeistert für den verblüfften Dichter Partei ergriff. So sehr ich
Katschen's Witz und Frische preise — das Zwischenspiel auf der
Galerie gefiel mir an seinem Stücke besonders und scheint mir der
humoristischste Theil daran zu sein. Weil wir bei den fidelen Sachen
angelangt sind: Marx Möller's Dramatisirung der Dornröschen¬
sage gefiel im Berliner Theater durch den bildhübschen Effekt der
zurückweichenden Dornenhecken und des leuchtenden Kreuzes, welches:
der Prinzbefreier in begnadeten Händen trug. Sonst war die
Bearbeitung des armen Märchens durch Möller nicht geeignet, freund¬
liche Empfindungen auszulösen. Ich schweige von den Einzelheiten,
wenn er verspricht, es niemals wieder zu thun.
Außer den genanuten sind noch etwa ein halbes Dutzend sehr
schöner Stücke aufgeführt worden. Herr Rittner, der Schnitzler's
Filippo in Grund und Boden verdarb und die reizvollen Verse
Rain
betrübsam malträtirte, ließ ein eigenes Kunstwerk „Lorenzo di Medu#
geben, das ich leider Gott sei Dank nicht gesehen habe. Auch die
Freien Bühnen und Modernen Bühnen und Neuen freien Volks¬
hühnen bethätigten sich. Sie haben das Recht dazu, aber nicht das
Recht, mich um meinen Nachmittagsspaziergang zu bringen. Die
Verwahrung der Kritik, die Herrn Sudermann schlaflose Nächte
gemacht hat, trotzdem er vorher Goethebund=Reden memorirte, diese
Verwahrung hängt unmittelbar mit der grassirenden Epidemie der
dramatischen Matinéen zusammen. Ich will ihr nicht verfallen und
blieb deshalb fort.
Richard Nordhausen.