II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 488

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14. Der Schleier der Beatrice

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Ein Trio von Unzufriedenen. — Bismarck=Warte und Bismarck=Kommers. — Sapellnikoff. — Charpentiers „Luise" und Schnitzlers
„Schleier der Beatrice“.
Don Eugen Reichel.
Die Zahl der Unzufriedenen wird in Berlin, wie
Vertrauen hat und dessen Forderungen er befriedigen kann.
es scheint, von Jahr zu Jahr größer. Bisher hatte man
Jedenfalls wäre es unerhört, wenn man es „Laien“
geglaubt, daß nur die Sozialdemokraten von Berufs wegen
verbieten wollte, der kranken Menschheit ihre Dienste
die Unzufriedenheit auf ihre Fahne geschrieben hätten;
zu widmen. Der Staat kommt den Arzten schon aus¬
aber das hat sich in der letzten Zeit sehr geändert. So
reichend entgegen, wenn er die „Kurpfuscher“ für jedes
haben wir denn in der ersten Märzwoche eine ganze
Versehen, für jede Schädigung der Patienten zur Rechen¬
Reihe von Versammlungen erlebt, die keinen andern
schaft zieht; mehr kann, mehr darf er nicht tun; und
Zweck hatten, als gewissen Behörden den Ausdruck des
wie es jedem Kranken freisteht, sich vom Arzte heilen
Unbehagens von seiten großer Gesellschaft= oder Berufs¬
oder ganz zu Grunde richten zu lassen, so muß es auch
kreise so deutlich wie nur irgend möglich zu vermitteln.
jedem Kranken freistehen, sich an den Kurpfuscher zu
Hier hatten Arzte sich zu einer „Deutschen Gesellschaft
wenden, von dem er Heilung erwarten darf. Hierüber
zur Bekämpfung des Kurpfuschertums“ zusammengetan
sollten sich die, dem Ring zur Bekämpfung und Besei¬
und im Bürgersaale des Rathauses ihre erste Schlacht
tigung des Kurpfuschertums angehörenden Arzte klar sein.
gegen die immer drohender werdende Gefahr mit sehr
Ebenso klar sollten sich die Prediger des Goethe¬
zeifelhaftem Erfolge geliefert; dort wetterten um Mitter¬
Bundes darüber sein, daß auch ihre Deklamationen
nacht und bis in den Morgen hinein gereizte Artisten
über polizeiliche Vergewaltigung des Theaterpublikums
gegen die weise Obrigkeit und berieten Abwehrma߬
auf die zuständigen Behörden wenig Eindruck machen
regeln gegen allerhand behördliche Beschränkungen; dort
werden. Es ist ja zweifellos eines gebildeten Volkes
protestierte an einem Sonntagmittag im überfüllten
unwürdig, sich bei jeder passenden und unpassenden Ge¬
Riesensaale der Philharmonie der „Goethe=Bund“ gegen
legenheit bevormunden zu lassen; und zumal heute, da
die Theater=Zensur — kurz, wohin man hört: überall
sich Neigungen und Gesinnungen fast schrankenlos betätigen,
Klagen, Entrüstungsstürme und Forderungen; überall
ich möchte fast sagen: austoben dürfen, wirkt es mehr
Kundgebungen der Unzufriedenheit. Was die Herren
als komisch, wenn bald hier, bald da ein Theaterstück
Arzte wünschen und erstreben, weiß man: vollständige
verboten wird mit der Begründung, daß es entweder
Unterdrückung des „Kurpfuschertums“, durch das
die „Sittlichkeit" oder das „religiöse Empfinden“ ge¬
„der Volksgesundheit ernste schwere Gefahren drohen“.
fährden könne. Wenn trotzdem die Theater=Zensur in
Seitdem „die Kurpfuscher ihr volksfeindliches Gewerbe
Kraft bleibt, so müssen hierfür eben Gründe maßgebend
in großen, immer wachsenden Scharen betreiben“, geht
sein, die alle oberflächlichen Deklamationen der Herren
es mit dem Wohlstand der Durchschnittsärzte, die sich
Sudermann, Fulda und Genossen nicht aus der Welt
ebenfalls „in immer wachsenden Scharen“ namentlich
schaffen können. Die Bestie im Menschen ist bekanntlich
über die unglückliche Reichshauptstadt ausbreiten, sehr
sehr viel mächtiger und stärker als der „Mensch“; die Un¬
merklich zurück. Das ist an sich zweifellos beklagens¬
sauberkeit und Roheit mächtiger als das veredelte Em¬
wert; und es würde deshalb gar nichts schaden, wenn
pfinden, der gebildete Geschmack; und wenn es keine
die studierende Jugend ein Menschenalter hindurch vom
schützenden Bollwerke gäbe, so würde das Edle und
Studium der Medizin ganz absehen und sich anderen
Gute sehr schnell und rettungslos vom Gemeinen und
Studien zuwenden wollte. Aber es wäre doch wirklich
Schlechten überflutet werden. Schon aus diesem Grunde
seltsam, wenn man das „Kurpfuschertum“ nun kurzer¬
läßt sich eine gesetzliche Schutzmacht beim Theater nicht
hand ausrottete und das Recht, an der leidenden Mensch¬
entbehren; und es ist höchstens zu bedauern, daß diese
heit herumzukurieren, einzig und allein den Herren zu¬
Schutzmacht nicht besser, nicht sorgfältiger ihres Amtes
gestände, die da zufällig ihr Doktor= und Staatsexamen
waltet, daß sie für gewöhnlich Zoten der schlimmsten
bestanden haben. Ein letztes Wort ist in dieser An¬
Art duldet und sich nur dann auf ihre Gewalt besinnt,
gelegenheit noch nicht gesprochen und kann wohl auch,
wenn irgend ein Stück edlerer Art in Frage kommt.
wenigstens im Sinne der Herren Arzte, nicht gesprochen
Aber auch die Theaterdirektoren wissen sehr wohl, daß
werden. Man wird aber, wie zur Zeit. so auch in
sie bei der bestehenden Theaterzensur sicherer fahren.
alle Zukunft jedem Kranken die Freiheit lassen müssen,
Ein letztes Einspruchsrecht wird und muß sich der Staat,
sich an den Mann zu wenden, zu dem er das meiste dih. in diesem Falle die Polizei, unter allen Umständen