II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 498

14: Der Schleier der Beatrice
Kunst und Wissenschaft.

Literatur und Theater.
a
Leipziger Schauspielhaus.
Leipzig, 24. Mai. Gestern sahen wir bier das neue
Schauspiel Arthur Schnitzlers „Der Schleier der
Beatrice". Der Dichter wird zu den Veriretern der
Wiener Moderne gerechnet und hat in „Liebelei", „Frei¬
wild“ und einigen Einaktern soziale Schauspiele verfaßt,
welche die Signatur der modernen Richtung tragen. Sein
neuestes Drama aber liefert den Beweis, daß diese Richtung
jetzt nach allen Gegenden der Windrose aus einander fährt;
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seinem dämonischen Gesicht in alle diese Renaissance¬
Tragödien, auch in die Maeterlincksche hineingreift, wird
die fröhliche Hochzeit gefeiert, bei der auch die Florentiner Cour¬
tisanen erscheinen, die vorher bei dem Dichter Filippo Loschi
eine Gastrolle in einer Privatorgie gegeben haben. Nun begibt
sich aber das Merkwürdige, daß die Braut dem Bräutigam
fortläuft, ohne daß er längere Zeit hindurch es bemerkt —
bei der Hochzeit wenigstens pflegen doch Bräutigam und
Braut beisammen zu bleiben, wenn sie auch später ver¬
schiedene Wege gehen. Doch Beatrice läuft fort, und zwar:
spornstreichs zu ihrem ersten Geliebten, dem Dichter; was sie
da recht will, weiß sie nicht; sie denkt auch ans Sterben,
doch als er ihr vorredet, in dem Becher, aus dem sie ge¬
trunken, sei Gift gewesen, da fühlt sie sich doch durch diese Mit¬
teilung unangenehm berührt. Den Dichter, der überhaupt eine
sehr problematische Natur ist, läßt sie auch wieder im Stich und
läuft zu ihrer Hochteit zurück, vergißt aber, ihren Schleier
mitzunehmen. Der Herzog hat sie endlich doch vermißt und
nun beginnt ein Verhör, bei welchem sie anfangs lügt und
behauptet, sie habe den Schleier in der Kirche gelassen. Das
wird sofort widerlegt, nun hüllt sie sich in feierliches
Schweigen. Der Herzog aber ist ergrimmt und überliefert
sie einem improvisierten Gericht seiner Hofbeamten, das sie
zum Tode verurteilen soll. Bentivoglio verwandelt sich auf
einmal in einen Heinrich VIII., der aber mit seinen
fürstlichen Gemahlinnen nicht so kurzen Prozeß gemacht hat.
Beatrice hat indes keine Lust zu sterben; das wissen wir ja
schon aus dem dritten Akt; sie will den Herzog dorthin
führen, wo sie ihren Schleier hat liegen lassen; doch nur ihn
allein. Er gibt Ordie, daß ihm niemand nachfolgen soll.
So führt sie den Fürsten in die Wohnung des Dichters, da
findet er den Schleier, doch noch mehr — die Leiche des
Loschi, die zweite Leiche am Lebensweg der Beatrice.
Die dritte ist sie selbst; denn ihr eigener Bruder
tötet die Unheilstifterin. Dem Herzog läßt sie nur ihren
Schleier, wie Helena dem Faust ihr Gewand. Untröstlich ist
er gerade nicht; denn in einer dichterisch schönen Schlußrede
wird über die Herzogin, die eine halbe Nacht die Krone trug,
zur Tagesordnung übergegangen. Dagegen werden dem
toten Dichter begeisterte Lobsprüche erteilt, als wenn er ein
Tasso und Dante wäre, und der Fürst wendet sich dann mit
kriegerischem Aufschwung gegen Cesare Borgia.
Die Vorgänge in diesem
sit venia verbo — ver¬
knäuelten und vergreuelten Schauspiel kamen uns auf einmal
so bekannt vor; wir blätterten in unserem mit vielen hundert
Dramen befruchteten Gedächtnis umher, und da besannen wir
uns auf eine Heldin, die auch ihren Lebensweg mit Leichen¬
steinen pflastert — die Heldin des Frank Wedekindschen Schau¬
spiels „Der Erdgeist“. Die in einem Blitzzug fahrende Hand¬
lung des Schnitzlerschen Stückes ist in einer Weise überstürzt,
wie es uns bisher in keinem ernstgemeinten Drama vor¬
gekommen, außerdem noch mit grellen und etwas anstößigen
Episoden überladen, in ihren psychologischen Motivierungen
oft sehr unklar; aber an dichterischen Schönheiten fehlt es
dem Werke nicht, und es ist nur schade, daß diese Brillanten
an einer so zerknüllten dramatischen Toilette hängen.
Frl. Irene Triesch, welche die Beatrice spielte, ist bis¬
her noch nie in Leipzig aufgetreten; es ist uns unmöglich, sie
nach einer einzigen Rolle, noch dazu in einem verfehlten
Stücke, zu beurteilen. Das Eine erschien uns zweifellos: sie
hat Temperament und weiß Affektstellen und Sensations¬
motive gut heraus zu arbeiten. Von ihrem Organ wird
sie dabei nicht sonderlich unterstützt; es hat keinen schönen
Vollklang, bisweilen etwas Kreischendes. In der Seelen¬
malerei mag sie Anerkennenswertes leisten; das zeigte sich in
den beiden großen Scenen mit dem Dichter Filippo; doch im
ganzen bietet das Schauspiel wenig Anlaß dazu. Sie wurde
wiederholt hervorgerufen und lebhaft applaudiert. Vor¬
trefflich war der Herzog des Herrn Mauren, eine impulsive
Namnwie fast alle Helden und Heldinnendes Stücken)
doch über die Klippen desselben, die Werbung auf
der Straße, welche an diejenige Richards III. erinnert,
glitt sein Spiel geschickt hinweg; er suchte nach einer Ver¬
tiefung, welche der Dichter hier nicht gefunden, und half mit
andeutendem Spiele nach. Sehr schön sprach er die Schlu߬
rede. Herr Grevenberg als Filippo Loschi hat eine noch
schwierigere Aufgabe. Dieser Dichter mit einer etwas dunkeln,
gelegemtlich in die Handlung hereinplatzenden Vorgeschichte
gehört zu den schwankenden Gestalten, deren Genialität sich in
einem grillenhaften Wesen, in einem stürmischen Wechsel
der Empfindungen, in unausgeglichenen seelischen Kon¬
flikten zeigt. Herr Grevenberg stellte alle diese
Gefühlswallungen mit einem hin und her lodernden
Feuer dar. Den Francesco spielte Herr Vollmer mit der
frischen Tatkraft, welche diesem resoluten Schwestermörder¬
eigen ist; ergötzlich war der Manussi des Herrn Mehnert,
der etwas Humor in die grellen Vorgänge brachte. Der
Graf Andrea Fantuzzi des Herrn Eggeling zeigte in seiner
Hauptscene dramatische Energie. Erwähnen wollen wir noch aus