II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 594

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14: Der Schleier der beatrice
erheblich wäre, und deren dramatische Verdienste lediglich negativer Natur
sind. Diese Tiraden fressen immerhin soviel Raum, daß keiner für die Sorte
von Wirkungen übrig ist, welche die Dichter des „Katzenstegs und der Tragödie
„Endlich allein“ aus der möglichen, zu erwartenden, unmittelbar bevor¬
stehenden, im letzten Augenblick verhinderten, langsam wieder angebahnten,
nochmals aufgehaltenen, schließlich aber doch Gott sei Lob und Dank un¬
widerruflich vollzogenen Vereinigung zweier Menschen verschiedenen Ge¬
schlechts herauszuschlagen die gesegnete Fähigkeit bewiesen haben. Sophus
Michaëlis ist durchaus sauber. Er lüstelt nicht und er kitzelt nicht und
er tut wer weiß was sonst alles nicht. Wäre er getrost ein bischen weniger
musterhaft und dafür nicht so erschreckend reizlos! Er sieht sein Ziel und
hält korrekt derauf zu, ohne einen Finger breit in die Gefilde artistischer
Besenderheiten abzuweichen, von holdem Dichterwahnsinn gar nicht zu
reden. Alles kommt, wie es — nicht etwa nach dem Spruch von Sibyllen
und Propheten, sondern nach der Berechnung einer primitivsten Menschen¬
kenntnis kommen muß. Man braucht von jeder der handelnden und
leidenden Personen nur einen Satz zu hören, um Inhalt und Zweck
aller folgenden zu kennen, ohne freilich deshalb ihre schier unendliche
Anzahl zu ahnen. Ueberraschungen der Psychologie bleiben ausge¬
schlossen. Davon sind die Figuren so nüchtern, farblos und dünn. Der
aristokratische Bräutigam liebt sein bischen Leben mehr als die simple
Braut und das Renommee der Tapferkeit und hat weiter keine Eigenschaft;
und der Republikaner ist in seinen anderthalb Charakterzügen und seinen
scheinbaren Schwankungen aus der aufgestörten und aufstörenden, beruhigten und
beruhigenden Sexualität der andersrassigen Braut erklärt. Schlichter kann kein
Dramatiker sein. Nachdem man das Stück gesehen hat, befürchtet man fast,
daß diese Dramatik selbst dem breiten Theaterpublikum zu schlicht sein wird;
man befürchtet es, weil das Hebbeltheater für seine Wahl nur die eine
Rechtfertigung hätte: vaß es, um zu existieren, endlich auch einmal den Ge¬
schmack der Plebs treffen müsse. Die Aufführung hat diesen Geschmack
sicherlich nicht getroffen. Kayßler kommt ihm von der Höhe seiner mensch¬
lichen Art und seiner künstlerischen Mittel, für die starre Republikaner wie
geschaffen sind, keinen Schritt weit entgegen, und Frau Ida Roland kann
ihn in tragenden Rollen ungalizische Färbung nicht einmal von unten her
erreichen. Sie war, als jugendlich schöne Aristokratenbraut voll gallischer
Kultur, in jeder Hinsicht „gemacht, von Sünden zu entwöhnen, nicht dazu
anzureizen“ Mag sein, daß diese Fehlbesetzung der Hauptfigur, die bei
dem Personalbestand des Theaters garnicht nötig gewesen wäre, die ganze
Aufführung verstört hat. Jedenfalls wurden die Schwächen des Stückes
entblößt statt verhüllt. Es fehlt ihm an Blut und Glut, mit einem Wort:
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