II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 593

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14: Der Schleier der Beatrice
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Kainz und Michaélis g
[ophus Michaëlis hat das Schauspiel, mit dem das

Hebbeltheater seinen Anschauungsunterricht in der skandi¬
navischen Literatur der Gegenwart fortsetzt, dramatischer und
83) Kpoetischer betitelt als gestaltet. Revolutionsbochzeit.
ElKlang und Inhalt des Wortes wecken ein Vierteljahr¬
hundert nach Renan die Erinnerung an einen seiner geschichtsphilosophischen
Einfälle. „Von allen Seiten müßte die Liebe hervorbrechen, wenn die
Menschheit die Gewißheit hätte, daß die Welt in zwei, drei Tagen auf¬
hören wird. Denn was sonst die Liebe in Schranken hält — die uner¬
läßlichen Bedingungen des moralischen Bestandes unsrer Gesellschaft —
das fiele angesichts eines raschen, sichern Todes hinweg. Ein Jubelruf
aller Kreatur würde laut werden. Die Menschheit würde in vollen
Zügen einen berauschenden Liebestrank leeren und dann an diesem Taumel¬
kelch zugrunde gehen.“ Renan hat seinen Einfall auch als Dichter aus¬
zusprechen versucht. Aber er hat der Abbesse de Jouarre keinen Jubelruf
entlockt, sondern nur kühle Spitzfindigkeiten und verschlungene Sophismen,
die freilich das Problem in seiner Weite und Tiefe erschöpfen. Schnitzler,
im „Schleier der Beatrice', war ebenso klug und, trotz einer vorgeschrittenen
Kompliziertheit aller Motive, ein Schöpfer. Von diesen Namen wird
Michaëlis weggeblasen. Er gibt nicht einmal den kahlen Einfall in vollem
Umfang. Er muß ihn sich, um ihn zu bewältigen, erst noch verkleinern
und isolieren, und glaubt dabei, durch historische Ueber= und Unter¬
malung den umgekehrten Eindruck großer Perspektiven hervorrufen zu
können. Er glaubt das ganz naiv, ohne die Absicht der Täuschung,
aber sicherlich auch ohne ihren Effekt. Kratzt man dem Schauspiel das
aufgetünchte Revolutionsmileu herunter, so bleibt ein Ereignis ohne
jede Allgemeingiltigkeit, eine einzelne Verwicklung mit letalem Ausgang.
Stammte jenes Zeitkolorit von einem Franzosen und nicht von einem un¬
beteiligten Dänen, es ließe sich wahrscheinlich nicht so leicht herunterkratzen.
Käme die Verwicklung an ein reines Theaterblut, sie würde für ein Schau¬
spiel ausreichen, an dem mehr als der pure Stoff fesseln müßte. Im Jahre
1793 rettet ein Offizier der Republik einem eben getrauten Emigranten dadurch
das Leben, daß er die Kleider mit ihm tauscht, und wird dafür aus der
Welt durch den Himmel einer primae noctis in die Hölle befördert. Wie
Michaëlis diesen Vorfall behandelt, ist mir alles an ihm gleichgültig. Er
hat nicht das wilde Totentanztempo, das uns in seinen Wirbel schlänge.
Er schleicht schneckenhaft durch die Wüste gutgemeinter Betrachtungen, deren
geistiger Ertrag sicherlich auch in einer brauchbaren Uebersetzung ganz un¬
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