II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 596

den Wiener Dichtern ein Aeußerliches, das Taine=Zola'schen Theorie eine Zeitlang de
sichtbare Ziel ihres Strebens: Ihr Ehrgeiz Roman der Wiener Gesellschaft oder zumindest
Dramatiker.
Wiener
eines Ausschnittes derselben zu begründen ver¬
und Künstlertraum, ihre Sehnsucht, ihr höchster
Lohn zugleich war und ist noch immer — das suchte
Dieses „Wiener Stück“ die Form 129¬
[Theater..
gegenwärtigen charakteristischen Wiener dran.
In jenen gesellschaftlichen Kreisen, die sich
Wien war nicht bloß, Wien ist noch
in Wien noch stärker als anderswo um jede
immer Theaterstadt. Das Vergnügen tischen Production, — völlig verschieden von
den andern österreichischen Dramatikern, vor
politische oder künstlerische Bewegung schließen,
am Decorativen, an äußerlichem Prunk, an
starken Effecten, mit einem Wort am Theatra= allem den kernigen „Jung=Tirolern“, Schön¬
wird das Gerede von einer angeblichen jun¬
lischen liegt den Wienern im Blute. Die sherr und Kranawitter — bedeutet, meine
gen, jüngsten und allerjüngsten Wiener Dichter¬
ich, wenig mehr als eine ModeErscheinung
schule noch immer nicht stille. Wer diesen Din¬
Politik ward hier von jeher in verhängni߬
es wird so rasch als es erstand, wieder von
gen ferne steht, gewinnt leicht eine halbhumo¬
voller Verkennung als wirksam zugespitztes
der Bühnenbildfläche verschwinden. So neu
ristische Vorstellung dieser neu aufgeblühten
Schauspiel oder lustige Komödie betrachtet. Das
sich diese Form gibt, so alt ist sie in Wirklich¬
Wiener literarischen Herrlichkeit. Eine Dame
rasche Aufblühen des modernen Wien, das
fragte mich jüngst: „Nicht wahr, Herr Doctor,
Entstehen der neuen Bauten, Straßen und keit. Das „Wiener Stück“ reicht in seinen
Anfängen zu den nachmärzlichen Possendichtern:
die jungen Leute kommen täglich in einem
Stadttheile hat seinen letzten kaum eingestan¬
den O. F. Berg und Langer zurück. Auch
Café zusammen, dem „Fenstergucker“ oder dem
denen Grund vielleicht nur in der dem Wiener
diese haben es bereits verstanden, ein Wiener
altberühmten und verläsierten „Griensteidl“,
eigenthümlichen Freude an theatralischer Ent¬
Milieu mit wenig Strichen geschickt zu zeich¬
da sitzen sie alle, die Jungen, die Jüngsten,
faltung. Darum darf es nicht Wunder nehmen,
nen und lebendige Figuren aus der Wiener
die Allerjüngsten Wiener vergnügt beisammen
daß unter den Dichtern bloß gilt, wer auf dem
Vorstadt hineinzustellen. Aus solchen Erinne¬
und erzählen einander ihre Pläne. Hermann
Theater Siege gewann. Viele Bände reifen
rungen aus dem großen Vorbilde Anzen¬
Bahr, der kritische Papst, thront mitten unter
lyrischen Könnens, die herrlichsten Novellen
grubers, des gemüthlicheren Bauernfeld und
ihnen und weist jedem mit weiser Miene und
wiegen in unserer Stadt nichts gegen den
der Einwirkung des Berliner Bühnen=Hinter¬
nicht ohne Schalkheit die eben zeitgemäße
bescheidensten Theater=Erfolg. Darum drängt
haus=Naturalismus, der Hauptmann=, Suder¬
Aufgabe zu, welche er selbst morgen als
in Wien jede Kraft dem Theater zu. Am
mann= und Hirschfeld=Methode der fleißigen
gar nicht mehr zeitgemäß überwinden und
Tantiemen=Golde hängt, nach dem Tantémen¬
Kleinschilderung ist das „Wiener Stück“ ge¬
mit seinem gegenwärtig freilich recht ge¬
Golde drängt bei uns doch alles! Ferdinand
worden. Das wesentliche Merkmal dieser Zu¬
zähmten Grimm verhöhnen wird.“
von Saar und Marie Ebner, geborene
stands=Dramen ist das mühsam=genaue Ausmalen
Diese Anschauung meiner liebenswürdigen
und erkorene Novellisten, haben sich in jungen
eines bestimmten originellen Wiener kleinbür¬
Theater=Nachbarin ist die allgemeine, selbst in
Jahren vergebens um den Lorbeer des Drama¬
gerlichen Lebenskreifes, die detaillirte Zeich¬
unserer Stadt gang und gäbe. In einer solchen
tikers bemüht; da sie auf dem Theater ver¬
nung der Charaktere, die sich da zumeist nicht
Caféhauswirksamkeit denkt man sich die Wie¬
sagten, erfreuen sie sich in Wien blos eines
in kräftiger Handlung, sondern in verschweben¬
ner Dichter am liebsten befangen. „Das junge
kleinen, freilich gewählten Publicums. Emil
den Stimmungen entfalten. Karlweis,
Wien“, so meint man, stellt halb eine wild¬
Marriot, desgleichen eine durchaus epische
der allzufrüh dahin ging, war der Meister
romantische E. Th. A. Hofmann'sche Spelunken¬
Natur, entging zu ihrem Nachtheil so wenig
dieser Schilderung des Echten und Bodenstän¬
Verbrüderung, halb eine gemüthliche Kamerad¬
wie die lyrische Ada Christen der in Wien
digen. In seinen Volksstücken, dem „Kleinen
schaft nach Art der seligen „Schwäbischen
unwiderstehlichen Lockung zur Bühne. Hof¬
Mann“, dem „Groben Hemd“, dem „Neuen
Schule dar.“
mansthal hat seinen ganzen, künstlich
Simson“ weht wirklich die Wiener Luft. Das
In Wirklichkeit verhält sich dies völlig breitgesponnenen Ruhm gefährdet, als er vor
bürgerliche Wienerthum ist hier mit seinen
anders. Die Caféhäuser, die man eine Zeit lang einigen Jahren sichtbar in die Theater=Erschei¬
Schwächen, Widersprüchen und Liebenswür¬
nung trat, als er wirkliches Gestalten=Können
statt jener vormals blühenden, jetzt aufgege¬
beweisen sollte. Schnitzler und Dör= digkeiten von einem gleichgesinnten Geiste ganz
denen, vornehm ästetischen Salons der Baronin
mann, die beiden bühnenwirksamsten jüngen erfaßt. Hermann Bahr's Wiener Stücke
Wertheimstein und Tedesco — glänzende Sam¬
„Das Tschapperl“ „Die Wienerinnen“. Der
melpunkte der Wiener feinsinnigen Geselligkeit Wiener Theater=Dichter, kennt man in breiteren
Star“ haben nicht die Karlweis'sche Lebens¬
aufsuchte, sind jetzt von literarischen Leuten
Kreisen überhaupt kaum mehr nach ihren An¬
fängen als Novellisten und Lyriker: ihren Ruf unmittelbarkeit. Sie bekunden allzusehr ihren
leer. Wer in Wien etwas vermag, hat sich
kritischen Ursprung; sie sind allzu feuilletonistische
danken sie allein dem Theater. J. I. David
längst aus dem Cafehausgeschwätz zu ernster,
witzig. Bahr hat einmal scherzhaft das Recept
gesammelter Arbeit gerettet. Dieser schafft in
genießt noch immer nicht jenen Rang, der ihm
gebürt, weil er das Theater nicht zu bezwingen des Wiener Stückes so formulirt: man lasse
Hietzing, jener grübelt in St. Veit, der eine
ein „süßes, schlampertes Wiener Mädel“
in einem bürgerlichen Berufe thätig, und nur
wußte
Aber die Wiener Dichter eilen nicht blos, auftreten, und um sie herum nichts ge¬
zuweilen poetische Flügel schwingend, der
schehen — das ganze ist dann ein „Wiener
andere nur um die Kunst der schön ciselirten durch so viele Gründe gedrängt, dem einen
Stück“.
— Ich fürchte, Bahr hat dieses
Worte bemüht. Hat man nun das Recht,
Ziel, dem Theater, gemeinschaftlich entgegen
Recept selbst öfters im Ernste verwendet.
diesen abseits wohnenden, abseits von einander
man bemerkt, daß sie sich insgesammt
Schnitzlers Dramen sind nicht eigentlich Wiener
Bestrebten einen gemeinsam kennzeichnenden
gleichsam um das eine, nämliche Stück be¬
mühen. Sie haben längst die edle Tradition Stücke im streng naturalistischen Sinne. Hier
Namen unterzuschieben? Das „junge Wien“
wird vielmehr die Wiener Alltäglichkeit in eine
ist heute kaum mehr, wie vielleicht in seinen
der österreichischen dramatischen Kunst, die
Atmosphäre des Zarten und Geistigen gehoben,
allerersten Anfängen, eine literarische Gruppe:
Grillparzer= und Raimund=Richtung, aufgegeben
die weit über die locale und provinzielle Be¬
niemand will dazu gehören, jeder verwahrt sich
sie haben selbst das Beispiel Halms, des
Pathetischen, aber noch immer um den Glanz grenzung greift. Auch Hawels „Mutter
gegen die künstliche Einschaltung.
der Form Bestrebten, verlassen. Nur der einzige Sorge“ mit seiner allerdings steifen und her¬
Nach jenen künstlerisch dürren Jahrzehnten,
kömmlichen allegorischen Hauptgestalt führt nicht
Ebermann hat mit seiner „Athenerin“ noch
die dem Tode Grillparzers folgten, sind bei
in das Reich des Wienerischen, sondern der
einmal diese Pfade zu einer lichten und hei¬
uns einige zarte, dabei doch starke, dem Con¬
gegenwartslosen Poesie. Der eben neuerwachte
teren Welt beschritten, doch betrat er sie seit¬
ventionellen ausweichende dichterische Talente
Erfolg der Ledigen Leute“ Dörmanus
dem nicht wieder; auch Lothar hat den
aufgetreten — in allem Uibrigen so disparat,
draußen im Reiche beweist, daß jenes leicht¬
„König Harlekin“ nicht wieder erreicht. Dem
wie die dichterischen Formen, wie die Richtun¬
fertige Zuhälter= und Lebemannthum, das hier
Hofmannssthal'schen Wort=und Bildergeranke
gen innerhalb der Literatur unserer Zeit. Vers¬
lustig geschildert wird, internationalen Ur¬
fehlt die eigentliche dramatische Structur so
dichter, Erzähler, satyrische Betrachter, Roman¬
sprunges ist. Daß aber jenes eigentliche „Wiener
völlig, daß man seine „Acte“ kaum Dramen
tiker, Veristen, Psychologen, pessimistische Gro߬
Stück“ noch lange nicht im Aussterben, viel¬
nennen darf. Dörrman's romantischer „Herr
stadt=Schilderer und rosenroth träumende Lyriker
mehr im Aufblühen und Weiterwachsen be¬
von Abadessa, Schnitzler's allzu psychologi¬
siie alle wohnen in dem Begriff „junges
griffen ist, mag aus der Betrachtung einiger
sches Versdrama „Der Schleier der Beatrice“.
Wien“ friedlich beisammen. Gemeinsam ist
Wiener Dramen der jüngeren Zeit erhellen, die
ein Hinaufsteigen, nicht von Handlung zu
diesen sonst so willkürlich vereinten „Jung¬
noch nicht zur Aufführung gelangt sind oder
Handlung, sondern von Finesse zu Finesse,
Wienern“ nur: die bewußte und betonte Liebe
überhaupt aus Gründen mannigfacher Art nicht
haben die Bühne nicht gewonnen oder behauptet.
zur Heimat, deren Duft und Anmuth in ihren
zur Darstellung gelangen werden.
In den bühnenfähigen Versuchen der anderen
Werken lebt, ein gewisser schwermüthig=heiterer
Dr. Paul Wertheimer (Wien).
Grundton als Eigenthümlichkeit des Wiener Wiener Poeten tritt überall nur der eine
Wesens, das Spielerische der Motive, die künstlerische Wunsch zutage: Das Bestreben,
leichte, manchmal ein bischen cocette Gracie ein neues Genre, das specifische „Wiener
des Ausdruckes. Gemeinsam war und ist ferner! Stück“ zu schaffen, wie man im Sinne der