II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 603

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14. Der Schleier der atrice
Burgtheater=Première.
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mitbringen. Da wird Dir eine ganz neue
Welt aufgehn oder vielmehr eine alte —
mit persönlicher Kultur, langjähriger Tra¬
dition, innerer Vornehmheit; Du wirst das
merkwürdige Wien vor fünfzig Jahren kennen
lernen, das seine Basteien noch hatte, seine
Glacis und seine grünen Vororte, und eine
Stadt gewesen sein soll, in der das Leben lang¬
samer und weicher floß als überall, und wo
alle Leute furchtbar viel Zeit übrig hatten für
Tanz, Liebe, lustige Feste, na — gewiß auch
für Tratsch und kleinbürgerliche Gehässigkeiten.
Vetter Franz fand einen hübschen Ver¬
gleich. Der Saar komme ihm vor, sagte er,
wie ein entzückendes Barockschlößlein, von
dem ganz wenige Menschen wissen, daß es
in dem kleinen vernachlässigten Park steht,

den eine grüne Mauer mit letzten Kräften
vor den modernen Riesenbauten schützt, die
von allen Seiten bedrohlich hervorrücken,
G
um es zu erdrücken.
Marie Eugenie delle Grazie.
Wir waren mittlerweile doch in unserer
(Aufnahme von C. Pietzner in Wien.)
Loge gelandet. Es war, Gott sei Dank, eine
aber ich wagte das alles nicht, schluckte es
Parterreloge, so daß ich Gelegenheit hatte,
hinunter und machte ihr nur einen ganz
den Leuten ins Gesicht und nicht bloß auf
den Scheitel zu sehn. Das gesellschaftliche
großen Kniks, recht wie ein kleines Schul¬
mädel, und lief den Rest der Treppe empor,
daß ich oben ganz atemlos anlangte. Dort
sah ich mich rasch noch einmal um und dachte
mir, so sollte eigentlich jede Großmutter aus¬
sehen, so gütig und so weise, so klein und
so behaglich und zugleich so ein bißchen
braun und faltig, wie ein gebratener Apfel
und auch so süß. Da es, wie gesagt, noch
früh an der Zeit war, blieben wir auf un¬
serem Treppenbalkon zwischen den schweren,
dunkelroten Vorhängen stehn und beobachteten
die Kommenden. Und da sahen wir, wie
neben der Ebner ein alter Herr mit weißem
Bart und einem frischen roten Gesicht auf¬
tauchte. Er sah sehr elegant aus, hatte licht¬
blaue Augen, wie ich durch mein Glas er¬
kennen konnte und sein lustiges, starkes
Lachen klang bis zu uns herauf. Es war
Ferdinand von Saar, dem man die
kommenden 70 wahrhaftig nicht ankennt. Er
ist einmal Soldat gewesen, hat die berühmte
weiße Uniform der Österreicher von anno
dazumal noch wirklich am Leibe getragen
solange bis aus dem Leutnant ein
Dichter wurde, der erste moderne Lyriker,
lange bevor die Lyrik sich modernisierte, ein
geistiger Bruder Theodor Storms. Ach Du,
Arthur Schnitzler.
ich muß Dir die Novellen aus Österreich
(Aufnahme von E. Bieber=Berlin.)
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