II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 74

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11. Reigen
* Artur Schnitzlers „Reigen“. Der Aka¬
demisch=dramatische Verein veranstaltet
bekanntlich nächste Woche die schon früher angekündigte
Aufführung einzelner Szenen aus Schnitzlers Reigen.
Wir bringen, ohne indeß damit unserm Herrn Theater¬
referenten vorgreifen zu wollen, eine uns schon längere
Zeit vorliegende Besprechung des im Wiener Verlag er¬
schienenen Buches. Herr Dr.L.B. (Wien) schreibt
uns darüber: Es ist das Buch der „Wiener Saison“,
das Artur Schnitzler geschrieben hat. Das will freilich
noch nicht viel sagen; die abgeschmackte Pikanterie eines
Schlüsselromanes oder die hysterische Verstiegenheit
entimentalischer Blaustrümpfelei haben sich schon
gleicher Ehre rühmen dürfen. Es ist ein charmantes
Werk, voll Anmut und Grazie und mit einem gewissen
ronisch verschleierten Ernst, der wohl der markanteste
Zug in dem Bilde des Wiener Dichters ist. Das scheint
schon ein gewichtigeresLob und doch erklärt es noch nicht,
warum diesen zehn Dialogen ein Massen=Erfolg be¬
chieden war, auf den die feinen Erzählungen Schnitz¬
lers noch warten müssen. „Reigen“ ist ein gewagtes,
ein „frivoles“ Buch und sein Erfolg ist ein Pikanterie¬
Erfolg. Damit soll beileibe nicht der Dichter getadelt
werden, wohl aber das Publikum. Die künstlerischen
Qualitäten der Gespräche haben mit dem Aufsehen, das
sie erregen, nichts zu tun. Irgend ein Pierre Louys, ja
auch ein gar nicht einmal literarisch verkleideter Porno¬
graph findet die gleiche Aufnahme. Daß sich hinter den
erotischen Ereignissen dieser Szenen eine beinahe über¬
feinerte Psychologie und eine vornehme lächelnde
Menschenverachtung bergen, merkt die auch in der Kunst
stets am „Stoffe“ klebende Menge gewiß nicht. Wie
vären sonst die zahlreichen Entrüstungen eifriger
MNoralisten zu erklären, die es wagten, den Dichter des
trotz Breslau und Berlin wundersam schönen Beatricen¬
dramas als skandalsüchtigen Zotenreißer hinzustellen?
Dahinter steckt keineswegs bloße Tartüfferie, sondern
ehrlicher Unverstand. Es sei ohne weiters den nach
olizei schreienden Tugendwächtern zugegeben, daß die
Kühnheit der Dialoge etwas Herausforderndes hat. Es
sird zehn kleine Komödien des Geschlechtstriebes, in
der Höhepunkten der Dichter stets zu schweigen und die
Inte punktion zu reden beginnt. Dirne und Soldat,
Soldat und Stubenmädchen, Stubenmädchen und der
junge Herr, der junge Herr und die junge Frau, die
junge Frau und der Ehegalte, der Ehegatte und das
süße Mädel, das süße Mädel und der Dichter, der Dich¬
ter und die Schauspielerin, die Schauspielerm und der
Graf bilden einen Reigen, der sich mit der Vereinigung
des Grafen und der Dirne schließt. Wir werden also
in alle Stockwerke des Gesellschaftsbaues geführt; die
Vorhänge der verschwiegensten Alkoven öffnen sich und
ie geheimsten Geheimnisse dürfen wir hören. Die Liebe
in ihrer konkretesten Form ist das einzige, zehnmal geist¬
eich variierte Thema des Buches und trotz der außer¬
ordentlichen Wahrhaftigkeit des Tones, in dem die Ge¬
spräche gehalten sind, fällt kaum ein unzartes Wort.
Man glaubt an eine nachtwandlerische Sicherheit des
Dichters; aber man hat Unrecht. Sie ist vielmehr das
Ergebnis höchster Bewußtheit, einer geradezu raffinier¬
ten Geschmackskultur. Zwei Dinge machen den beson¬
eren Reiz der Gespräche aus. Zuerst die ganz und gar
naufdringliche Festigkeit mit der die Besonderheiten
der beiden Geschlechter und ihr Verhalten in der Liebe
gekennzeichnet ist. Es ist überaus ergötzlich, zu sehen
vie sich die Schlauheit des Weibchens der Täppigkeit
des Männchens überlegen erweist. Vielleicht noch nie
sind die femininen Listen sicherer beobachtet und dis¬
kreter nachgezeichnet worden. Ein Chirurg der Seele
eigt uns ihre verborgensten Verrichtungen und dringt
hier in Gebiete, die bisher der Kunst terra incognita
varen. Und einem weniger Geschmackvollen wäre der
Versuch, diese operativen Eingriffe nachzuahmen, wahr¬
lich nicht anzuraten. Der zweite Reiz dieser Szenen
ist die scharfe Charakterisierungskunst, mit der die ein¬
zelnen Menschen vor uns hingestellt werden. Nur ein
aar Striche, scheinbar flüchtig hingeworfen, und doch
leben sie und stehen greifbar deutlich vor uns. Der selbst¬
gefällige, nach Sensationen pürschende Dichter, die
exzentrische, stets posierende Schauspielerin, der lüstern¬
philiströse, moralisierende Gatte und alle die anderen
Menschlein sind mit sicherer Hand gestaltet. Und
dennoch bleibt es fraglich, ob das Experiment einer Auf¬
ührung glücken kann. Diese Menschen und Szenen sind
Bleistiftzeichnungen, die Bühne aber braucht Farben.
Grelle Farben sogar. Und gerade der feinste Reiz der
Gespräche ist vielleicht zu zart für das Theater und ver¬
lüchtigt sich, schmilzt unter den grellen Rampenlichtern.
Nun: der Münchner Akademisch=dramatische Verein
wird mit seinem Versuche zeigen, ob die Bedenten ge¬
rechtfertigt sind. Er hat das schöne Vorrecht der Jugend,
nicht ängstlich zu sein.