II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 88

11. Reigen
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so stelte sich denn auch ein da
Publikum ein, dem es ein begreifliches
Vergnügen machen mußte, seine „Frei¬
geistigkeit“ durch lauten Beifall darzu¬
tun. Es ist das bei der Massenverbreitung
dieses Freisinns gegenwärtig allerdings
ein ziemlich billiges Vergnügen; jeden¬
falls gehört unter den Umständen, von
denen die Entrüstungsversammlungen
der Goethebunde noch vor ein paar
Jahren Zeugnis ablegten, mehr Mut
dazu, sich durch die Tat zu gegenteiligen
Ansichten zu bekennen. Ich wenigstens
glaube dem „Denunzianten“ dieses Zu¬
geständnis machen zu müssen, wenn
auch sein Mut zu großem Teil mit auf
einer gewissen geistig sittlichen Be¬
schränktheit beruhn mag. Meines Er¬
achtens ist die ganze Sache, um die
es sich dreht, des Aufhebens in dieser
Weise überhaupt nicht wert. Die Dia¬
loge Schnitzlers beleuchten das Ver¬
halten einer Reihe von „Repräsen¬
tanten der Menschheit“ inbezug auf
die „Geschlechtsfrage“ und zwar zum
größten Teil ihr Verhalten in den ver¬
schiedenen Stadien der Geschlechtser¬
regung; sie weisen zum Teil mit
„pikant“ spielendem Humore, zum Teil
mit schärferer Satire auf charakteristi¬
sche Besonderheiten und typische Vor¬
fälle dabei wie auf die vielen Lügen,
Verstellungskünste, Phrasen hin, mit
denen das Geschlechtsleben sein eigent¬
liches Wesen zu verhüllen liebt. Dieses
eigentliche Wesen wird von Schnitzler
freilich einseitig als ein durchaus raf¬
finiert oder roh, zum mindesten aus¬
schließlich sinnliches gefaßt, doch kann
ich ihm daraus bei der ausgesprochen
satirischen, also von vornherein „tenden¬
ziös“ spöttischen Richtung des Stückes
nicht gerade einen schwereren Vorwurf
machen, auch stört mich ein gelegentliches
und zuweilen selbst schablonenhaftes
Karikieren bei Schnitzler weniger als
die allzu intime und ausführliche Be¬
handlung des ganzen Themas: das
heißt denn doch, wenn man die
„Frage“ nicht weiter faßt, als Schnitz¬
ler tut, meinem Empfinden nach
der Bedeutung des Gegenstandes für
alle, die nicht besondere Liebhaber auf
diesem Gebiete sind, zu viel Ehre an¬
tun; auch tritt dadurch die geistige
Auffassung manchmal bis auf allzu
geringe Reste vor der „vertraulichen
Schilderung des oft recht übelriechenden
Stoffes zurück, der sich dann als solcher
für empfindlichere Nasen unangenehm
bemerkbar macht. Wie solche Dinge alles
stofflich Anekelnden entkleidet werden
können, wenn sie von einem kräftigeren
„geistigen Sehen“ stärker stilisiert er¬
scheinen, dafür bringt der Simpli¬
zissimuszeichner Heine in seinen zahl¬
reichen humoristischsatirischen Darstel¬
lergen und Linienspielen überzeu¬
gende Beispiele auch für den, dem
das Wesen dieses Heineschen Geistes
nicht im mindesten behagt. Unter
2. Juliheft 1903
keinen Umständen aber eignen sich, was
auch Gumppenberg in den Münchner
Neuesten Nachrichten betonte, diese Dia¬
loge dazu, mit dem vielen „Unbeschreib¬
lichen“ das die Buchausgabe unter
Gedankenstrichen begräbt, auf der Bühne
ins Leben gerufen zu werden. Be¬
denkt man ferner, daß von den zehn
Dialogen nur drei aufgeführt wurden,
die unmöglich, wie die hiesige Kritik
gleichfalls mit Recht hervorhob, die
geistige Tendenz des Autors in voller
Schärfe hervortreten lassen konnten,
so erscheint einem das Vorgehen des
Akademisch=dramatischen Vereins vom
ästhetischen Standpunkt aus vollends
unbegreiflich.
Freilich denkt man daran, was uns
unsre Bühnen in den letzten Wochen
an Premièren sonst zu verdauen ge¬
geben haben, so könnte man die Auf¬
führung des „Reigens“ beinahe doch
noch als künstlerische „Tat“ empfinden.
flauenden Saison hingehn, daß uns
das Münchner Schauspielhaus als
Gastspielstücke die sentimental ange¬
richtete Volksküchenbrühe einer Dame
aus Wien und den „Gemeinen“
Felix Saltens vorgesetzt hat, der
im wesentlichen mit denselben Wür¬
zen hantiert, wenn er auch mehr
künstlerischen Geschmack und mehr
Talent zu äußerlicher Milieudarstel¬
lung verrät! Wie aber kommt unser
„vornehmes“ Residenztheater, wie
kommt der hierzuland als kunstför¬
dernder Halbgott verehrte Herr von
Possart dazu, uns eine solche rohe Ver
gewaltigung eines tiefernsten Werkes,
eine solche plump=sentimental=konven¬
tionelle Ausschlachtung zu Sensations¬
und Kassenzwecken, wie die Drama¬
tisierung der „Auferstehung" von
Tolstoj durch H. Bataille in der
Uebersetzung von Annie Neumann¬
Hofer eine ist, mit Pomp vorzuführen?
Ich begreife, daß auch ein königliches
Hoftheater Geschäfte machen will, muß
es aber zu dem Zweck Schändungen am
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