II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 110

box 17/2
11. Reigen
Dr. Max Goldschmidt
„ „ „ Bureau für
Zeitungsausschnitte
verbunden mit direktem Nachrichtendienst durch
eigene Korrespondenten.
Telephon: III, 3051.
Berlin N. 24.

Ausschnitt aus
Caurief
Hanne
1• DEZ. 903
Abermals Kunst und Sittlichkeit.?
Man schreibt uns:
Die Maßregelung des Akademisch=dra¬
matischen Vereins in München — auf Anordnung
des Rektors der Universität sind die üblichen Semesteranschläge
des Vereins vom Schwarzen Brett entfernt worden — ist dort
immer noch Gegenstand erregter Diskussion. Grund des Ein¬
schreitens der akademischen Behörde war bekanntlich die Auf¬
führung
einiger Szenen aus
Schninlels
die der Verein im Juni dieses Jähres veranstartet hatte.
In
den Streit der Meinungen greift jetzt die „Allg. Ztg.“ mit
einem Artikel ein, in dem sie sich in Wiederholung älterer Aus¬
führungen zu Kunstanschauungen bekennt, die nicht eben liberal
sind. Das Münchener Blatt setzt der Kunst Grenzen, die diese
nicht kennt; es bezeichnet es als eine „Frage künstlevischen
Geschmackes, ob ein literarisches Produkt, das sich keck über
die Schranken hinwegsetzt, die ein sittlich gesund empfindender
Mensch nicht überschritten sehen will, noch für ein Kunstwerk zu
erachten ist“. Bei solcher Auffassung wird es der „Allg. Ztg.
freilich schwer, sich des Lobes der Zentrumsblätter zu erwehren,
das aus diesem Anlaß reichlich über sie ergangen ist. Wir
stellen im Namien der Freiheit der Kunst fest, daß diese keine
außerhalb ihren liegende Gesetze kennt, auch nicht solche der
Sittlichkeit. Der Gegenstand der kecken und, wenn man vom
Standpunkt praktischer Moral aus spricht, gewißlich frechen
Szenen, die Schnitzlers „Reigen“ ausmachen und in zehn Bil¬
dern lasziver Erotik eine Kette des Liebesspieles schließen, die
bei der käuflichen Straßendirne niedrigster Gattung anhebt
und über die Höhen des Geistes und der Geburt zu ihr zurück¬
führt, ist ausschließlich der eine Punkt, aus dem, mit Mephisto
zu reden, Weh und Ach — nicht nur des einen Geschlechts
so tausendfach zu kurieren ist.
Aber die Darstellung, die
Schnitzler dem Gedanken von der Erniedrigung des Menschen
in den trüben Tiefen der Sinnlichkeit gibt, ist eine so eminent
künstlerische, die Szenen, die er schildert, sind mit vollendeter
Herrschaft über den Stoff, mit frappierender Wahrheit und
so sonveräner Sicherheit des Blickes für den wesentlichen In¬
halt der geschilderten Situationen gezeichnet, daß, rein als Kunst¬
werk genommen und mit künstlerischen Augen betrachtet,
Schnitzlers Studie zu den ersten ihrer Gattung zu rechnen ist.
Und es ist so falsch wie möglich, zu behaupten, wit es die „Allg.
Ztg.“ tut, daß dieser Darstellung der Nachtseiten menschlicher
Erotik, weil sie einmal das Gegenstück gibt zu der gewöhnlichen
Idealisierung und Sublimierung der Liebe, weil sie vealistisch
packend hineingreift in das dumpfe Triebleben der Sinne,
weil sie trotz ihres Humors schlechthin wahr ist und nichts ver¬
schleiert, die Kunstqualität abzusprechen, daß sie als kustur¬
Nachdruck verboten.
feindlich, als vom Standpunkte jeder Sittlichkeit aus unsittlich
zu bezeichnen sei. Ja wir sind der Meinung, wenn schon durch¬
aus Kunst und Sittlichkeit vermengt werden sollen, daß auch
hier in einem höheren Sinne Sittlichkeit waltet, gerade, wenn
die Dumpfheit des Trieblebens in packender Wiedergabe die
Sehnsucht nach seiner Vergeistigung, seiner Veredelung weckt, und
wir halten die Worte: „da tritt Schnitzler herein in den großen
und reinen Menschheitstempel der Liebe und zeigt höhnend, daß
auch Romeo und Julia im Grunde nur ein lüsterner Bube und
seine dumme Dirne waren“ für eine Beleidigung, und was
schlimmer für den Kritiker ist, für eine grobe Verkennung eines
Dichters.
Indes, wie gesagt, Kunst und Sittlichkeit sind getrennte
Sphären, und wer der einen namens
an¬
der
deren Gesetze vorschreiben möchte, zeigt wenig Be¬
ruf, über künstlerische Fragen
urteilen.
zu
Jedoch
N
eine von der künstlerischen Beurteilung von Schnitzlers virtuosem
Werkchen gänzlich zu trennende Angelegenheit ist die praktische
Frage, die in das Gebiet der öffentlichen Sittlichkeit gehört, wie
weit jede Art von Kunft der Allgemeinheit zugängig zu machen,
und wie weit von dieser künstlerische Erzeugnisse fernzuhalten
sind, die vollendete Reife und hohen Ernst des Genießenden
voraussetzen, damit der Mißbrauch solcher Produkte zu niederen
Zwecken ausgeschlossen sei. Und hier stehen wir nicht an, zu be¬
kennen, daß uns Schnitzlers Büchlein lieber war, als es noch
als Manuskript für Freunde gedruckt, peinlich gehütet von Hand
zu Hand ging und vor Unberufenen auf des Dichters eigenes
Ersuchen sorgfältig gewahrt wurde, nicht anders, wie es mit
gewissen Blättern des genialen Franzosen Félicien Rops in
Sammlerhänden geschieht, die eine geistige und künstlerische
Verwandtschaft mit Schnitzlers Skizzen aufweisen. Es war ein
Fehlgriff des Wiener Autors, diese schließlich doch der breiten
Oeffentlichkeit zu übergeben, die für seine künstlerische Absicht

die Entgleisung des „berufenen“ Kritikers beweist es
kein Verständnis haben kann, und diese pretiöse Arbeit für
Feinschmecker wie den Dekameron und andere Kunstwerke der
Weltliteratur mit den Erzeugnissen einer widerlichen Porno¬
graphie zusammenwirft. Und nachdem dieser eino Fehlgriff
begangen war, kam der schlimmere, daß in grober Verkennung
der Dialogform von Schnitzlers Szenen und mit einer Geschmack¬
losigkeit, die fast zu lächerlich ist, um zu entrüsten, die jungen
Leute aus dem sonst so verdienten Münchener Verein auf die
korrupte Idee kamen, diese rein novellistisch pointierten, ledig¬
lich für den Genuß des einsamen Lesers bestimmten Szenen
„mit Auswahl“ dramatisch darzustellen. Wie war es möglich,
daß kein Berufener sich fand, die jungen Männer vor diesem
groben Fehlgriff zu warnen, der sich nun, da die Vorführungen
des Vereins sich immerhin an eine beschränkte Oeffentlichkeit
wenden, in der Tat zu einem öffentlichen Aergernis aus¬
wuchs? So ist die Maßregel des akademischen Senats erklär¬
lich, wenn wir sie auch nicht billigen können, denn gerade die
Universitätsbehörde wäre, infolge der patriarchalischen Gewalt,
die sie besitzt, in der Lage gewesen, die Torheit des Vereins
von vornherein zu verhindern. Sie selbst hat eher ihre Pflich
der Ueberwachung versäumt, als sie die Aufführung zuließ;
die jungen Studenten haben nur ein mangelndes Urteil ge¬
zeigt, das die Verdienste nicht wettmacht, die sich ihr rühriger
Verein seit manchem Jahr um Literatur und Kunst erworben
hat. So hoffen wir, daß das Vorgehen des Rektors nicht dazu
führen werde, den Verein dauerndlahmzulegen. Aber wenn wir die
Publikation des Schnitzlerschen Buches und die dramatische Vor¬
führung seiner Szenen, die übrigens auch der Dichter hätte ver¬
hindern sollen, trotzdem mißbilligen, so wollen wir doch noch¬
mals betonen, daß dies auch von uns anerkannte In¬
teresse öffentlicher Sittlichkeit mit der Beurteilung eines Kunst¬
werkes an sich, wie es Schnitzlers „Reigen“ ist, nichts zu
tun hat.
C. K.