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Reigen
Münchner Brief.
ochn
Von Carry Brachvogel.
Seit etlichen Wochen rumort's in den Münchner Köpfen.
Besäße man die Phantasie und den sprachlichen Bilderreichtum
eines klerikalen Abgeordneten, so würde man konstatieren,
daß wieder einmal die Volksseele kocht. Die brave Volks¬
seele denkt aber nicht daran. Sie weiß gar nichts von der
sanften Entrüstung, die die Kreise der Intellektuellen erfüllt,
oder, um mich ganz richtig auszudrücken, die innerhalb
des Kreises der Intellektuellen den kleinen Sprengel der
Theater=, Literatur= und Zeitungsmenschen ergriffen hat. Wenn
in München literarische oder gar theatralische Interessen wochen¬
lang im Vordergrund der Teilnahme stehen, wenn anhaltend
über sie geredet und geschrieben wird, so ist das beinahe ein
Mirakel. Für Mirakel, die sich nicht alsbald als Schwindel
entpuppen, sollte man in unsrer wunderarmen Zeit immer
dankbar sein, gleichviel ob sie von einem Gott oder einem
Faiseur inszeniert werden. Wir hätten also schon jetzt allen
Grund, uns dankbar vor ihm zu neigen, der von den
echtasiatischen Gefilden des „Neuen Wiener Tagblatt“ sich
losmacht, um unser Hoftheater noch über die legendäre Schau¬
bühne kat’ exochen — die Burg — hinauszuheben —
Hermann Bahr hat Glück, ein Niesenglück sogar, ganz
ähnlich wie jener, der auf seines Daches Zinnen stand. An
drei Bühnen zugleich fällt sein neues, so überaus mißlungenes
Stück durch, just in diesem Augenblick qualifiziert ihn unser
Intendant zur maßgebenden Theaterpersönlichkeit. Oder war
es vielleicht weniger Bahrs Glück, als Speidels Pech, daß
Abfall und Ernennung so drollig nahe beieinander standen?
Wie immer das sein mag — Herrmann Bahr hat den¬
noch ein schier polykratisches Glück. Was man ihm immer
versagt, was er sich selber wohl kaum je gegönnt, erfüllt sich
nun: er wird ernst genommen. Blutig ernst sogar. Die öf¬
fentliche Meinung, die Presse (und zwar nicht nur die lokale)
beschäftigt sich mit den dreitausendsechshundertsiebenundfünfzig
künstlerischen Überzeugungen, die er im Laufe von zwanzig
430
Jahre schlankweg aufgebraucht hat. Für sie, die ihn doch
so oft ironisiert und belächelt, ist er mit eins nicht mehr der
Meister der Wandlungsfähigkeit, sondern der Fanatiker des
Dogmas. Nicht mehr Herrmann der Schmiegsame, sondern
Herrmann der Bekenner. Selbst politische Unerschütterlichkeit
muten sie ihm zu. Weil er sich in einem Verlagskatalog in
lustig=grotesker A.fgeblasenheit „Anarchist“ nennt, schreien sie
laut, als würft er nicht nur schon mit den Stinkbomben der
Moderne nach dem geheiligten Großväterschlendrian der so
sehr königlichen Bühnen, sondern als dächte er auch ernsthaft
daran, Staatsfundame#te zu erschüttern. Ich sag's ja, er hat
ein Riesenglück.... Er scheint auch schon durchdrungen zu
sein von seiner neuen Würde und Wichtigkeit. Fast alle
Tage offenbart er einem Interviewer oder Preßfreund seine
neuen Beziehungen zum Weltganzen. Er hat zwar am An¬
fang versprachen, daß er kein Programm geben wolle, „weil
Pregramme doch nie gehalten werden“, aber mit seinen Ver¬
sprechungen geht's offenbar nicht anders. Für süddeutsche Be¬
griffe redet er beängstigend viel, und diese ständige Bereit¬
schaft des Wortes hätte ihn vielleicht doch für Berlin besser
qualizifiert als für München.
Unbegreiflich bleibt aber trotz alledem der Rumor, den er
in den Köpfen angerichtet hat, die offenbare Feindseligkeit,
die ihm schon jetzt, noch ehe er sich im Guten oder Schlechten
bewährt hat, entgegenteitt.
Bei den zunächst Beteiligten, beim Schauspielpersonal der
königlichen Bühne, hat seine Ernennung das denkbar größte
Mißfallen erzeugt. Wenn diese Herrschaften vielleicht auch zu
klug sind, um sich sozusagen offiziell zu äußern, so kann man
sie doch überall, wo man sie privatim trifft auf den neuen
Oberregisseur mächtig schimpfen hören und selbst die Besonnenen,
Indifferenten versteigen sich zu keiner andern Sympathie¬
bezeugung als: „Wartet doch mit dem Schimpfen bis nach
seiner ersten Blamage!" Diese aggressive Stellungnahme er¬
scheint auf den ersten Blick besonders dem seltsam, der jahre¬
lang mit angehört hat, wie gerade das Personal der Hofbühne
sich mit vollem Recht beklagte, daß absolut kein moderner
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Münchner Brief.
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Von Carry Brachvogel.
Seit etlichen Wochen rumort's in den Münchner Köpfen.
Besäße man die Phantasie und den sprachlichen Bilderreichtum
eines klerikalen Abgeordneten, so würde man konstatieren,
daß wieder einmal die Volksseele kocht. Die brave Volks¬
seele denkt aber nicht daran. Sie weiß gar nichts von der
sanften Entrüstung, die die Kreise der Intellektuellen erfüllt,
oder, um mich ganz richtig auszudrücken, die innerhalb
des Kreises der Intellektuellen den kleinen Sprengel der
Theater=, Literatur= und Zeitungsmenschen ergriffen hat. Wenn
in München literarische oder gar theatralische Interessen wochen¬
lang im Vordergrund der Teilnahme stehen, wenn anhaltend
über sie geredet und geschrieben wird, so ist das beinahe ein
Mirakel. Für Mirakel, die sich nicht alsbald als Schwindel
entpuppen, sollte man in unsrer wunderarmen Zeit immer
dankbar sein, gleichviel ob sie von einem Gott oder einem
Faiseur inszeniert werden. Wir hätten also schon jetzt allen
Grund, uns dankbar vor ihm zu neigen, der von den
echtasiatischen Gefilden des „Neuen Wiener Tagblatt“ sich
losmacht, um unser Hoftheater noch über die legendäre Schau¬
bühne kat’ exochen — die Burg — hinauszuheben —
Hermann Bahr hat Glück, ein Niesenglück sogar, ganz
ähnlich wie jener, der auf seines Daches Zinnen stand. An
drei Bühnen zugleich fällt sein neues, so überaus mißlungenes
Stück durch, just in diesem Augenblick qualifiziert ihn unser
Intendant zur maßgebenden Theaterpersönlichkeit. Oder war
es vielleicht weniger Bahrs Glück, als Speidels Pech, daß
Abfall und Ernennung so drollig nahe beieinander standen?
Wie immer das sein mag — Herrmann Bahr hat den¬
noch ein schier polykratisches Glück. Was man ihm immer
versagt, was er sich selber wohl kaum je gegönnt, erfüllt sich
nun: er wird ernst genommen. Blutig ernst sogar. Die öf¬
fentliche Meinung, die Presse (und zwar nicht nur die lokale)
beschäftigt sich mit den dreitausendsechshundertsiebenundfünfzig
künstlerischen Überzeugungen, die er im Laufe von zwanzig
430
Jahre schlankweg aufgebraucht hat. Für sie, die ihn doch
so oft ironisiert und belächelt, ist er mit eins nicht mehr der
Meister der Wandlungsfähigkeit, sondern der Fanatiker des
Dogmas. Nicht mehr Herrmann der Schmiegsame, sondern
Herrmann der Bekenner. Selbst politische Unerschütterlichkeit
muten sie ihm zu. Weil er sich in einem Verlagskatalog in
lustig=grotesker A.fgeblasenheit „Anarchist“ nennt, schreien sie
laut, als würft er nicht nur schon mit den Stinkbomben der
Moderne nach dem geheiligten Großväterschlendrian der so
sehr königlichen Bühnen, sondern als dächte er auch ernsthaft
daran, Staatsfundame#te zu erschüttern. Ich sag's ja, er hat
ein Riesenglück.... Er scheint auch schon durchdrungen zu
sein von seiner neuen Würde und Wichtigkeit. Fast alle
Tage offenbart er einem Interviewer oder Preßfreund seine
neuen Beziehungen zum Weltganzen. Er hat zwar am An¬
fang versprachen, daß er kein Programm geben wolle, „weil
Pregramme doch nie gehalten werden“, aber mit seinen Ver¬
sprechungen geht's offenbar nicht anders. Für süddeutsche Be¬
griffe redet er beängstigend viel, und diese ständige Bereit¬
schaft des Wortes hätte ihn vielleicht doch für Berlin besser
qualizifiert als für München.
Unbegreiflich bleibt aber trotz alledem der Rumor, den er
in den Köpfen angerichtet hat, die offenbare Feindseligkeit,
die ihm schon jetzt, noch ehe er sich im Guten oder Schlechten
bewährt hat, entgegenteitt.
Bei den zunächst Beteiligten, beim Schauspielpersonal der
königlichen Bühne, hat seine Ernennung das denkbar größte
Mißfallen erzeugt. Wenn diese Herrschaften vielleicht auch zu
klug sind, um sich sozusagen offiziell zu äußern, so kann man
sie doch überall, wo man sie privatim trifft auf den neuen
Oberregisseur mächtig schimpfen hören und selbst die Besonnenen,
Indifferenten versteigen sich zu keiner andern Sympathie¬
bezeugung als: „Wartet doch mit dem Schimpfen bis nach
seiner ersten Blamage!" Diese aggressive Stellungnahme er¬
scheint auf den ersten Blick besonders dem seltsam, der jahre¬
lang mit angehört hat, wie gerade das Personal der Hofbühne
sich mit vollem Recht beklagte, daß absolut kein moderner
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