II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 138

11.
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Reigen
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Schnitzlersche Dialog um die „Handlung“ herum, wie ein
Schmetterling um die Lampe: endlich fällt er hinein und
flattert mit versengten Flügeln langsam weg — omne animal
post coitum triste. Auf eine Paraphrase dieses klassischen
Satzes laufen schließlich alle diese Gespräche hinaus, er ist das
Leitmotiv.
Es handelt sich nun darum, ob es Schnitzler gelungen ist,
den heiklen und verfänglichen Stoff zum Kunstwerk zu erheben.
Die Antwort ist ja und nein. Ja: in formeller Beziehung.
Der Dialog ist witzig, geschmeidig, voller Feinheiten. Er ist
ein „Kunststück“. Die Psychologie weiter ist, wenn auch nicht
gerade raffiniert, so doch ohne Fehler.
Es wird nichts ver¬
schwiegen, alles ausgeplandert und hie und da blitzt sogar ein
Wort auf, das in einen Abgrund leuchtet. Aber dies alles ruht
auf einer ethischen Basis, die brüchig oder vielleicht gar nicht
vorhanden ist. Schnitzler hat das Problem der geschlechtlichen
Vereinigung zu leicht genommen. Er hat die Tatsache un¬
berücksichtigt gelassen, daß Sexualität und Erotik verschiedene
Dinge bedeuten. Denn ohne Zweifel ist die Annahme ver¬
fehlt, daß Geschlechtstrieb und Liebe im Grunde ein und das¬
selbe sind, die zweite eine Verbrämung, Verfeinerung, „Subli¬
mation“ der ersten, obwohl hierauf alle Mediziner schwören,
und selbst Geister wie Schopenhauer nichts anderes geglaubt
haben. Und eben weil A. Schnitzler Arzt ist, konnte ihm das
Malheur passieren, das dem Dichter nicht verziehen werden
kann, daß er die Leidenschaft, die Liebe ins grelle Licht der
Satire rücken, daß er beweisen wollte; es ist alles nur Amüse¬
ment, in Wirklichkeit aber nur den Geschlechtstrieb in zehn fein
ausgetüftelte Gespräche projizierte.
Die Liebe ist die Quelle der großen Tragödien; an der
Tragödie ist Schnitzler vorbeigeschlüpft und hat eine tänzelnde
Tändelei auf den Markt gebracht. Um ein sexueller Satiriker
zu sein, dazu ist er viel zu sanguinisch, weich und wienerisch.
Ein solcher muß alle feinsten Nuancen aufspüren und darf
dabei doch nie das allgemeine aus den Augen verlieren. Er muß
alle Dinge miteinander spielen lassen können, aber er darf nicht
selbst mit ihnen spielen. Stendhal würde den „Reigen“ eine
Roheit nennen. Alles in allem: „Der Reigen“ ist sicher nicht
das beste, was Schnitzler geschrieben, aber doch nicht so un¬
geheuerlich, daß man seinetwegen das Anathema über den
Dichter aussprechen müßte, auf alle Fälle ist er zum psycho¬
logischen Porträt Schnitzlers selber ein wichtiger Beitrag.
Die Schnitzlerschen Dialoge auf die Bühne zu bringen,
war eine unerhörte Geschmacklosigkeit. Die „Darstellung“ unter¬
schlug selbstverständlich alle Pointen, so daß das Publikum nur
blöde und zum Teil widersinnige Hin= und Herredereien zu
hören bekam. Daß es auch diese noch akklamierte, ist nur ein
Beweis für seinen geistigen Tiefstand. Abgesehen von der Un¬
möglichkeit der Aufführung an sich, berührte doch noch un¬
angenehm genug die dilettantische Verkörperung der weiblichen
Rollen, wozu auch kam, daß die beiden Damen durch ihr
Aeußeres das, was sie sprechen mußten, nicht gerade unterstützen
konnten. — Nebenbei sei bemerkt, daß am gleichen Abend ein
Einakter aus der Feder eines Mitglieds des Akademisch=drama¬
tischen Vereins durchfiel.
Geegeeee eee e eeeee eege
Berliner Bilder
von
Bermann Esswein
Die Schwärmerei früherer Zeiten für schöne Landschaften
„und überhaupt das Poctische“ ist den modernen Menschen¬
kindern noch nicht abhanden gekommen. In Berlin macht
darum jeder Wirt, der drei Efeuwände und einen Lorbeerkübel
aufs Trottoir stellen kann, auf seinen Garten aufmerksam, und
handelt es sich gar um irgend ein tatsächlich in die Erde wur¬
zelndes baumähnliches Gewächs, so heißt es „Naturgarten“.
zum Ausdruck kommt, fragt dies Pröblem solböhl nach der
Entstehung des Kunstbedürfnisses im modernen Menschen, als
auch nach der Quelle des künstlerischen Schaffens, das diesem
Bedürfnisse gerecht wird. Gewährt doch alles, was wir an
gebildeten wie an ungebildeten Kunstübungen und Kunstlieb¬
habereien besitzen, gerade am Lebensmilieu der Großstadt ge¬
messen, einen äußerst befremdenden Anblick. Wir haben Kunst
als Vehikel des Amusements und Kunst zur religiösen Er¬
bauung, die immer dann nötig wird, wenn das Leben stärker
war als der Mensch.
Auch in der rein amüsierenden Kunst überwiegen jedoch
heute bereits die gemütvoll=neckisch, die niedlich=zötlich und
ästhetisch drapierten Banalitätchen vor den sensationellen, hals¬
brecherischen und blasphemischen Mitteln des künstlerischen Ver¬
gnügens, dessen artistische Wunder heute Stück für Stück gegen
ungefährliche schöngeistige Gemütsmätzchen eingehandelt werden.
Berlin ist, innerhalb einer gewissen Verbildungszone wenigstens,
viel mehr die Stadt der Miß Isadora Duncan und des sich
Fidus nennenden Kunstmalers Höppener, als eine Stadt der
Saharet und der Evolution.
Kein Wunder. — Gelockerte Nerven werden durch sensationell¬
orgiastische Kunst leicht zu Ausschreitungen veranlaßt, denen
ein erschöpftes Rückenmark dann nicht mehr gewachsen ist. Die
Duncan irritiert nicht. Ihre Beine garantieren das Recht
auf Ruhe.
Wer es vorher noch nicht wußte, dem kann es hier völlig
klar werden, das die „Tempelkunst“ die heute allenthalben
getanzt, geschrieben und gemalt wird, weit mehr eine medizinische
Angelegenheit ist als eine ästhetische.
In der Tat, eine Kunst der Wahrheit, der ehrlichen Analyse,
der aufrichtigen Kritik, eine evolutionistische Kunst, welche uns
das Leben in seiner schönen Grausamkeit zeigte und billigte,
sie ist heute zur Legende geworden. Man verlangt Schönheit,
man predigt Beruhigung und Ruhe. Die Flöte sehnsüchtiger
und naiver Schäfer ergeht sich in endlosen Variationen über
das Thema des Unvermögens.