II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 139

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Reige
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Der Herr Staatsanwalt und die Kultur. Auf Seite 457 der
„Freistatt“ wird ein Herr Schriftsteller Törnsee aus Wien festgenagelt.
Er hat in einem offenen Brief in der Zeitschrift „Neue Bahnen“ den
Herrn Staatsanwalt auf Schnitzlers Buch „Reigen“ gehetzt.
Diese Festnagelung ist durchaus gerechtfertigt. Schade, daß die
Schriftleitung der „Neuen Bahnen“ sie nicht selbst besorgt hat. So
muß sich besagte Schriftleitung gefallen lassen, daß wir sie in der
„Freistatt“ gleichfalls als mit Herrn Törnsee festgenagelt betrachten
und zwar gebührendermaßen und im vollsten Ernste. Denn es ist
unerhört, daß eine moderne Zeitschrift, die im Dienste deutscher Kultur
stehen will, irgend einen Staatsanwalt auf irgend ein Literaturwerk
hetzen läßt.
Den Herrn Törnsee kenne ich nicht, sein offener Brief an den
Herrn Staatsanwalt läßt mich auch seine nähere Bekanntschaft nicht
begehrenswert erscheinen. Hier sind Unterschiede in der Kultur=Auf¬
fassung, die einen wertvollen Verkehr mit Herrn Törnsee ausschließen.
Aber Arthur Schnitzler kennen wir. Er ist ein erprobter Künstler.
Seine mannigfaltigen Literaturwerke — Gedichte, Dramen, Er¬
zählungen — haben in den weitesten Kreisen starke künstlerische
Wirkungen hervorgebracht. Auch wenn er gelegentlich mit einer ge¬
ringeren Leistung hervortritt: einen Befähigungsnachweis hat er für
die Kenner und Freunde der schönen Künste jedenfalls nicht mehr zu
erbringen. Unter Gebildeten wird sein Name stets mit Achtung ge¬
nannt werden. Versagen ihm die Antisemiten des österreichischen
Reichsrates die Achtung, so fällt dies, bei der bekannten Güte dieser
Institution, nicht in die Wagschale. Die Bewunderung der Anti¬
semiten ist in keinem Sinne ein Kulturvorzug.
Ueber Schnitzlers „Reigen“ läßt sich vielerlei sagen und mit
Leuten von gebildetem Geschmack, ausgebreiteter ästhetischer Erfahrung
und sicherem Charakter läßt sich gut darüber streiten. Es ist nicht
notwendig, daß rasch das Urteil über den Leisten geschlagen werde:
„Reigen“ ist ein so starkes Buch, daß es auch ohne feste Zensur leben
kann. Ich kann mir vornehme Köpfe denken, die hier überhaupt mit
ihrer Meinung zurückhalten. Als durchaus unreif und unvornehm
muß aber die Hast empfunden werden, mit welcher in der Weise des
Herrn Törnsee in den „Neuen Bahnen“ in alle Gassen hinein und
über alle Häuser hinweggeschrieen wird: „Aus diesem elenden Mach¬
werk spricht nichts als die Lust am Schmutz!“ Und dann die De¬
nunziation an die Adresse des Herrn Staatsanwalts!
Ich habe „Reigen“ schon vor Jahren im ersten Manuskriptdruck
zu lesen die Ehre gehabt und damals meinen Eindruck in der „Ge¬
sellschaft“ niedergelegt. Ich konnte jetzt mit Sicherheit meinen da¬
maligen Eindruck überprüfen und ich bleibe dabei: „Reigen—ist
technisch eine der verblüffendsten Leistungen, die sich mit ähnlichen
Virtuosenstücken in den fremden Literaturen messen kann, während
Schnitzler in der wundervoll kü# en, jede Spur von schmutziger Lust
oder Lüsternheit ausschließenden Behandlungsart dieses menschlich¬
allzumenschlichen Themas meines Wissens keinen Rivalen hat. Ich
setze aber gleich bei: aus der ganzen Gattung mache ich mir nicht
viel und meine Frau und meinen Sohn muntere ich nicht auf,
„Reigen“ zu lesen.
Was soll nun der Herr Staatsanwalt? Mit irgend einer gesetz¬
geberisch geprägten Formel von „Unfug“ oder „Unzucht“ oder „Un¬
ittlichkeit“ gegen Schnitzler losschlagen?
Er mag's ja versuchen! Schafft er damit „Reigen“ aus der
Welt? Hindert er französische, englische oder italienische Uebersetzungen
oder deutsche Neudrucke von „Reigen“? Ganz gewiß nicht. Sein
Verdikt kann höchstens den Prüden eine vorübergehende Genugtuung
gewähren, den Neid= und Hämlingen eine kurze, karge Freude be¬
reiten, dem Autor einen bitteren Augenblick. Aber damit ist die
Wirkung des staatsanwaltlichen Strafapparates erschöpft. Irgend
etwas positiv Gutes zu schaffen oder etwas positiv Schlimmes zu
verhindern in Literatur und Kultur, ist auf diesem Wege unmöglich.
Die Funktion des Herrn Staatsanwaltes in der Welt der Dichtung
und Kunst ist gleich Null; sie kann eine Bewegung an einem mini¬
malen Stückchen Oberfläche markieren, in die Tiese der Dinge vermag
sie nicht zu dringen; sie ist eine nutzlose Quälerei, eine staatliche
Kraftvergendung.
Menschen=Sittlichkeit, Seelen=Adel sind so unbegreiflich hohe
Güter, daß nur die gewohnheitsmäßige Trivialität flacher Gehirne
glauben kann, dergleichen Wunder ließen sich im Gerichtssaal mit
juristischen Schablonen fabrizieren. Die einzig auf diesem Wege her¬
tellbare Frömmigkeit ist eine trübe, übelriechende, sterile Polizei¬
Frömmigkeit, die bei der Wertung sittlicher Kultur gar nicht in Be¬
tracht kommt.
Gewiß, die Institution ist heute noch in Kraft, der Staat spielt
neben seinen ernsten Funktionen sich immer noch als Beschützer der
geistig Zurückgebliebenen auf. Er kaut den Schwachköpfen sittliche
und ästhetische Axiome vor: Das paßt deinen Augen und Ohren, das
ist deinen Augen und Ohren verboten! Eine wundervoll vorsündflut¬
liche Pädagogik!
Rufen wir den Heren Staatsanwalt an, daß er über wissen¬
schaftliche Erkenntnisfragen urteile? Nein, es fehlt ihm hierfür jeg¬
liche Kompetenz. Aber über ästhetische Geschmacksfragen abzuurteilen,
besitzt er die Kompetenz? Und er besitzt je mehr Kompetenz, je mehr
es den kirchlichen Gewalten noch gestattet ist, ihre Auffassung der