II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 144

die am höchsten auf der Leiter der preßgesetzlich geschützten Unsterb¬
lichkeit stehen, die standen Jahrelang tagsüber in irgend einem ganz
irdischen Ramschbazar hinter dem Ladentisch, bis ihnen die günstige
Konjunktur lyrischer Industriepapiere eine neue, bequemere Existenz
in den Schoß warf. Seitdem sitzen diese Götterjünglinge während
langer Nachmittagsstunden mit viel Bedeutung und einer schlechten
Cigarre in den Kaffeehäusern, strahlen förmlich honorierte Ueber¬
legenheit aus, und eine Würde, eine Höhe entfernt jede exoterische
Vertraulichkeit. Abends aber sagen sie in ihren Brunst= und Dunst¬
höhlen vor einer Sippe angefetteter Kleinbürger ihr Sprüchlein auf,
mit Grinsen und schlechten Manieren. Ein Weiblein krächzt wohl
von der jetzt so beliebten schwülen Sinnlichkeit und triefende Hände
rühren sich zu verständnisinnigem Applaus. Oh (um das Wort eines
klugen Franzosen auf diese Parterre=Lokale anzuwenden): la haine
de ces boutiques-la e’est le commencement de l’amour du bien..
Von einer Stätte darf man in anderer Tonart reden das ist
das Weinlokal von Dalbelli nahe der Potsdamer Brücke, wo Herr
Peter Hille an jedem Montagabend vor einer kleinen, stillen
Freundesgemeinde aus seinen Manuskripten vorliest. In diesen Zu¬
sammenkünften kunstfreudiger Jugend, die einen alternden Weisen
innig und sinnig verehrt, findet man nichts von jener aufgeschwemmten
Talentlosigkeit, die den von Kabarett=Bazillen infizierten Westen Berlins
umschlungen hält mit klammernden Organen. Peter Hille liest, was
er während der Woche in der Einsamkeit von Schlachtensee gedichtet,
in diesem anspruchslosen, hellen Hinterstübchen, wo man guten Chianti
trinkt für billiges Geld und französische Zigaretten raucht und sich
über die weißen Zähne blühender Mädchen freut. Hier haben die
betriebsamen Konsektionäre, die hausierenden Rezitatoren und die
überreizten demi-vierges antikisierender Stilart nichts zu suchen. Ganz
reinlich und frisch ist diese Zelle. Und der weise Dichter, dieser
Bohème mit seinem grau=wallenden Zauberbart und der verehrungs¬
würdigen Unmöglichkeit seines Habitus, liest ruhig und ungelenk von
großen, wirren, töricht taumelnden Blättern seine Verse ab, Verse
gedämpfter Lebensfeinheit, edler Leuchtkraft und spürenden Tastsinns.
Duftende Fliedergedichte streut Peter Hille über seine Freunde aus,
vielleicht allzu aphoristisch kichernde Seelenspiele versteht er, und
plötzlich ist er bei Dichtungen des entzückten Dulders Baudelaire,
Dichtungen, die er mit seltsamer Sicherheit für seine westfälische
Seele annektiert hat. Ein Kapitel aus John Henry Mackays „Sybarit“,
das dem grauen Wundermann gefallen hat, bannt jetzt die Hörer in
matte Haft. Vielleicht hört man gar nicht mehr zu, hat nicht Hillesche
Stimmungen mehr, sondern läßt seine Gedanken eigenmächtig man¬
övrieren auf schwankem Terrain, aber wieviel unabsichtliche Klarheit
des Geschmacks gehört (nicht wahr?) dazu, es soweit zu bringen!
Auch ein paar Jünger des unaufdringlichen Propheten wagen sich
hervor, mit „Seelentönen“ von leiser Komik und ein baltisches Fräu¬
lein legt eine Novelle hin, die ganz erträglich irgend einem Erlebnis
nacherzählt ist. Zum Schluß gibt's petit kours aus der Wiener
Küche: Ein paar Skizzen Peter Altenbergs, gegenüber dem sich Herr
Hille die kleine Malice nicht versagen kann: „Der wird vor lauter
Feinheit einfältig!“ Wir lachen und ich gewähre dem St. Pierre
(der sich von Lebens=Vulkanen sein stilles Phlegma nie hat ver¬
schütten lassen) in Gedanken die Absolution, die der junge Goethe
sich selbst einmal in launiger Toleranz niederschrieb: „Transeat cum
ceteris propheticis erroribus!“ .. . Was aber sagt Herr Peter A.
selbst dazu, daß Herr Peter H. die charmanteste „kleine Wiener
Bäckerei“, die je serviert wurde, mit so boshafter Zunge genießt!?
Ferd. Hardekopf.
Der Herr Staatsanwalt und die Kultur. Auf Seite 457 der
„Freistatt“ wird ein Herr Schriftsteller Törnsee aus Wien festgenagelt.
Er hat in einem offenen Brief in der Zeitschrift „Neue Bahnen“ den
Herrn Staatsanwalt auf Schnitzlers BuchReigen“ gehetzt.
Diese Festnagelung ist durchaus gerechtferligk. Schade, daß die
Schriftleitung der „Neuen Bahnen“ sie nicht selbst besorgt hat. So
muß sich besagte Schriftleitung gefallen tassen, daß wir sie in der
„Freistatt“ gleichfalls als mit Herrn Törnsee festgenagelt betrachten
und zwar gebührendermaßen und im vollsten Ernste. Denn es ist
unerhört, daß eine moderne Zeitschrift, die im Dienste deutscher Kultur
stehen will, irgend einen Staatsanwalt auf irgend ein Literaturwerk
hetzen läßt.
Den Herrn Törnsee kenne ich nicht, sein offener Brief an den
Herrn Staatsanwalt läßt mich auch seine nähere Bekanntschaft nicht
eratatt
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begehrenswert erscheinen. Hier sind Unterschiede in der Kultur=Auf¬
assung, die einen wertvollen Verkehr mit Herrn Törnsee ausschließen.
Aber Arthur Schnitzler kennen wir. Er ist ein erprobter Künstler.
Seine mannigfaltigen Literaturwerke — Gedichte, Dramen, Er¬
zählungen — haben in den weitesten Kreisen starke künstlerische
Wirkungen hervorgebracht. Auch wenn er gelegentlich mit einer ge¬
ringeren Leistung hervortritt: einen Befähigungsnachweis hat er für
die Kenner und Freunde der schönen Künste jedenfalls nicht mehr zu
erbringen. Unter Gebildeten wird sein Name stets mit Achtung ge¬
nannt werden. Versagen ihm die Antisemiten des österreichischen
Reichsrates die Achtung, so fällt dies, bei der bekannten Güte dieser
Institution, nicht in die Wagschale. Die Bewunderung der Anti¬
semiten ist in keinem Sinne ein Kulturvorzug.
Ueber Schnitzlers „Reigen“ läßt sich vielerlei sagen und mit
Leuten von gebildetem Geschmack, ausgebreiteter ästhetischer Erfahrung
und sicherem Charakter läßt sich gut darüber streiten. Es ist nicht
notwendig, daß rasch das Urteil über den Leisten geschlagen werde:
„Reigen“ ist ein so starkes Buch, daß es auch ohne feste Zensur leben
kann. Ich kann mir vornehme Köpfe denten, die hier überhaupt mit
hrer Meinung zurückhalten. Als durchaus unreif und unvornehm
nuß aber die Hast empfunden werden, mit welcher in der Weise des
Herrn Törnsee in den „Neuen Bahnen“ in alle Gassen hinein und
über alle Häuser hinweggeschrieen wird: „Aus diesem elenden Mah¬
werk spricht nichts als die Lust am Schmutz!“ Und dann die Te¬
nunziation an die Adresse des Herrn Staatsanwalts!
Ich habe „Reigen“ schon vor Jahren im ersten Manuskriptdruck
zu lesen die Ehre gehabt und damals meinen Eindruck in der „Ge¬
ellschaft“ niedergelegt. Ich konnte jetzt mit Sicherheit meinen da¬
naligen Eindruck überprüfen und ich bleibe dabei: „Reigen“ ist
technisch eine der verblüffendsten Leistungen, die sich mit ähnlichen
Virtuosenstücken in den fremden Literaturen messen kann, während
Schnitzler in der wundervoll kühlen, jede Spur von schmutziger Lust
oder Lüsternheit ausschließenden Behandlungsart dieses menschlich¬
allzumenschlichen Themas meines Wissens keinen Rivalen hat. Ich
setze aber gleich bei: aus der ganzen Gattung mache ich mir nicht
viel und meine Frau und meinen Sohn muntere ich nicht auf,
„Reigen“ zu lesen.
Was soll nun der Herr Staatsanwalt? Mit irgend einer gesetz¬
geberisch geprägten Formel von „Unfug“ oder „Unzucht“ oder „Un¬
sittlichkeit“ gegen Schnitzler losschlagen?
Er mag's ja versuchen! Schafft er damit „Reigen“ aus der
Welt? Hindert er französische, englische oder italienische Uebersetzungen
oder deutsche Neudrucke von „Reigen"? Ganz gewiß nicht. Sein
Verdikt kann höchstens den Prüden eine vorübergehende Genugtuung
gewähren, den Neid= und Hämlingen eine kurze, karge Freude be¬
ceiten, dem Autor einen bitteren Augenblick. Aber damit ist die
Wirkung des staatsanwaltlichen Strafapparates erschöpft. Irgend
etwas positiv Gutes zu schaffen oder etwas positiv Schlimmes zu
verhindern in Literatur und Kultur, ist auf diesem Wege unmöglich.
Die Funktion des Herrn Staatsanwaltes in der Welt der Dichtung
und Kunst ist gleich Null; sie kann eine Bewegung an einem mini¬
malen Stückchen Oberfläche markieren, in die Tiefe der Dinge vermag
ie nicht zu dringen; sie ist eine nutzlose Quälerei, eine staatliche
Kraftvergendung.
Menschen=Sittlichkeit, Seelen=Adel sind so unbegreiflich hohe
Güter, daß nur die gewohnheitsmäßige Trivialität flacher Gehirne
glauben kann, dergleichen Wunder ließen sich im Gerichtssaal mit
juristischen Schablonen fabrizieren. Die einzig auf diesem Wege her¬
stellbare Frömmigkeit ist eine trübe, übelriechende, sterile Polizei¬
Frömmigkeit, die bei der Wertung sittlicher Kultur gar nicht in Be¬
tracht kommt.
Gewiß, die Institution ist heute noch in Kraft, der Staat spielt
neben seinen ernsten Funktionen sich immer noch als Beschützer der
geistig Zurückgebliebenen auf. Er kaut den Schwachköpfen sittliche
und ästhetische Axiome vor: Das paßt deinen Augen und Ohren, das
ist deinen Augen und Ohren verboten! Eine wundervoll vorsündflut¬
liche Pädagogik!
Rufen wir den Herrn Staatsanwalt an, daß er über wissen¬
schaftliche Erkenntnisfragen urteile? Nein, es fehlt ihm hierfür jeg¬
liche Kompetenz. Aber über ästhetische Geschmacksfragen abzuurteilen,
besitzt er die Kompetenz? Und er besitzt je mehr Kompetenz, je mehr
es den kirchlichen Gewalten noch gestattet ist, ihre Auffassung der
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