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Reigen
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Offener Brief an Dr. M. G. Conrad.
Geehrter Herr Kollege!
Da Sie es für nötig erachtet haben, gegen den Artikel „Sehr geehrter
Herr Staatsanwalt"*) in der „Freistatt“ Stellung zu nehmen, sehe ich mich
ebenfalls veranlaßt, coram publico zu antworten. Selbst auf die Gefahr hin, daß
wir hart aneinander geraten könnten und so die herzlichen Sympathien, die Sie mir
stets — vgl. die gleichzeitig mit besagter „Freistatt“ eingelangte Karte — gewidmet
haben, vielleicht gründlich in Brüche gehen möchten.
Vor allem stelle ich fest, daß es den Tatsachen nicht entspricht, den
Törnseeschen Aufsatz schlankweg als „Denunziation“, als „Anhetzung des
Staatsanwalts“ gegen Schnitzlers „Reigen“ zu bezeichnen. Die Behauptung,
der „Freistatt“ ist einfach ein Nonsens.
Es handelte sich darum, wieder einmal die Inkonsequenz der Zensur, die
Unzulänglichkeit der staatsanwaltschaftlichen Urteilsfähigkeit in Bezug
auf schriftstellerische Erzeugnisse nachzuweisen und so einen Beitrag zur Charakteristik
der unvernünftigsten aller unvernünftigen Staatseinrichtungen zu geben. Wenn der
Wiener Staatsanwalt das ohne Zweifel ein ernstes Problem ernst behandelnde Buch
von Weißl konfiszierte, so mußte er konsequenterweise auch Schnitzlers „Reigen“.
ein Buch, das ganz gewiß gar keine ernste Tendenz hat und sein nicht sonderlich
reinliches Thema nichts weniger als reinlich behandelt, konfiszieren. Umsomehr mußte
er dies, als Schnitzlers Buch in seinem Wirkungssprengel erschien, während Weißls
Roman in Leipzig veröffentlicht wurde. Die Kuriosität, daß der Staatsanwalt Werke
aus dem „Auslande“, die Ernst genommen werden wollen, beschlagnahmt, indeß er
an inländischen Erzeugnissen, denen man alles andere eher als Ernst nachsagen kann,
ruhig vorübergeht, das wurde in dem von Ihnen nach der „Freistatt“ beanständeten
Artikel betont — und solch ein Hinweis auf den staatsanwaltschaftlichen Defekt
in der Denksunktion, das soll eine „Denunziation“ sein!? Nein, lieber Herr Kollege: Die
Herren Bobies, Klingspor, Tschurtschenthaler, Gannahl und wie sie sonst noch heißen,
bedürfen der Aufhetzung nicht — das können Sie mir aufs Wort glauben! Zumal,
wenn ich Ihnen sage, daß die Wiener Staatsanwaltschaft vor gar nicht langer Zeit
Stellen aus Mommsens Römischer Geschichte und aus Schillers Tell konfiszierten,
während die Innsbrucker Nimrode ein Handschreiben des Erzherzogs Johann (des
Reichsverwesers), ja sogar Sätze aus Briefen Kaiser Franzens und der Kaiserin
Maria Ludovika für staatsgefährlich ausahen, werden Sie wohl überzeugt sein, daß
so trefflich geübte und versierte Staatsanwälte einer Aufhetzung nicht bedürfen. Am
wenigsten einer Aufhetzung unsererseits, die wir in der Santa Casa heiligen
Registern, genannt: Konfiskationsprotokoll, schon mehreremale verewigt worden sind!
*) Seite 288 der „Neuen Bahnen“.
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Offener Brief an Dr. M. G. Conrad.
Geehrter Herr Kollege!
Da Sie es für nötig erachtet haben, gegen den Artikel „Sehr geehrter
Herr Staatsanwalt"*) in der „Freistatt“ Stellung zu nehmen, sehe ich mich
ebenfalls veranlaßt, coram publico zu antworten. Selbst auf die Gefahr hin, daß
wir hart aneinander geraten könnten und so die herzlichen Sympathien, die Sie mir
stets — vgl. die gleichzeitig mit besagter „Freistatt“ eingelangte Karte — gewidmet
haben, vielleicht gründlich in Brüche gehen möchten.
Vor allem stelle ich fest, daß es den Tatsachen nicht entspricht, den
Törnseeschen Aufsatz schlankweg als „Denunziation“, als „Anhetzung des
Staatsanwalts“ gegen Schnitzlers „Reigen“ zu bezeichnen. Die Behauptung,
der „Freistatt“ ist einfach ein Nonsens.
Es handelte sich darum, wieder einmal die Inkonsequenz der Zensur, die
Unzulänglichkeit der staatsanwaltschaftlichen Urteilsfähigkeit in Bezug
auf schriftstellerische Erzeugnisse nachzuweisen und so einen Beitrag zur Charakteristik
der unvernünftigsten aller unvernünftigen Staatseinrichtungen zu geben. Wenn der
Wiener Staatsanwalt das ohne Zweifel ein ernstes Problem ernst behandelnde Buch
von Weißl konfiszierte, so mußte er konsequenterweise auch Schnitzlers „Reigen“.
ein Buch, das ganz gewiß gar keine ernste Tendenz hat und sein nicht sonderlich
reinliches Thema nichts weniger als reinlich behandelt, konfiszieren. Umsomehr mußte
er dies, als Schnitzlers Buch in seinem Wirkungssprengel erschien, während Weißls
Roman in Leipzig veröffentlicht wurde. Die Kuriosität, daß der Staatsanwalt Werke
aus dem „Auslande“, die Ernst genommen werden wollen, beschlagnahmt, indeß er
an inländischen Erzeugnissen, denen man alles andere eher als Ernst nachsagen kann,
ruhig vorübergeht, das wurde in dem von Ihnen nach der „Freistatt“ beanständeten
Artikel betont — und solch ein Hinweis auf den staatsanwaltschaftlichen Defekt
in der Denksunktion, das soll eine „Denunziation“ sein!? Nein, lieber Herr Kollege: Die
Herren Bobies, Klingspor, Tschurtschenthaler, Gannahl und wie sie sonst noch heißen,
bedürfen der Aufhetzung nicht — das können Sie mir aufs Wort glauben! Zumal,
wenn ich Ihnen sage, daß die Wiener Staatsanwaltschaft vor gar nicht langer Zeit
Stellen aus Mommsens Römischer Geschichte und aus Schillers Tell konfiszierten,
während die Innsbrucker Nimrode ein Handschreiben des Erzherzogs Johann (des
Reichsverwesers), ja sogar Sätze aus Briefen Kaiser Franzens und der Kaiserin
Maria Ludovika für staatsgefährlich ausahen, werden Sie wohl überzeugt sein, daß
so trefflich geübte und versierte Staatsanwälte einer Aufhetzung nicht bedürfen. Am
wenigsten einer Aufhetzung unsererseits, die wir in der Santa Casa heiligen
Registern, genannt: Konfiskationsprotokoll, schon mehreremale verewigt worden sind!
*) Seite 288 der „Neuen Bahnen“.
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