II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 183

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Keigen
box 17/3
Schnikzlerg. (eigen“. An oinem
#
Abend Felfang..
Woche las im
Verein „Stille Bühne
Josef
Giampietro Schnitzlers „Reigen“.
Die Vorlesung eines ganzen Buches
ist immer eine mißliche Sache
sie mißlang auch diesmal. Giam¬
pietro, der an rechter Stelle mehr
als ein guter, nämlich ein großer
Schauspieler ist, Giampietro fand
als Vorleser bei allen glänzenden
Einzelheiten doch nicht die Fülle
differenzierender Nuancen, die eine
Zuhörerschaft ununterbrochen fesselt
und unterhält. So wirkte der
gleichförmige Parallelismus der
zehn Szenen nicht als die feinste
Pointe dieser giftiggraziösen Dia¬
loge, sondern als abspannende
Monotonie. Die Reihen der Hörer
lichteten sich mehr und mehr, und
nach der neunten Szene einigte
sich der Vortragende mit den letzten
Getreuen auf Abbruch des Unter¬
nehmens.
Trotz diesem Mißerfolg bleibt
das Unternehmen begrüßenswert
als erwünschter Anlaß, dem poli¬
zeilich verbotenen Werk des wiener
Dichters ein Wort ernster Be¬
trachtung zu widmen. Der „Reigen
ist denn doch etwas mehr als geist¬
reiche Pornographie, wofür es auch
die Herren Rezensenten dieses
7
haubühne
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Abends zu halten schienen. Diese
zehn Szenen sind eine ganz hervor¬
ragende sprachkünstlerische Leistung.
Die Art, wie hier in zehn sexuellen
Katastrophen zehn Menschen je
zweimal durch den Dialog gestaltet

ind
in ihrer Lügen Maienblüte,
bewußte oder unbewußte Betrüger
der andern und ihrer selbst, lächer¬
lich dünkelhafte Marionetten am
Faden des großen Urtriebes: das
ist eine dichterische Meisterleistung,
die an tiefgründiger Lebensbe¬
obachtung und Lebensreproduktion
ungefähr alles leistet, was der
selige Naturalismus mit seinen
stumpfen Mitteln einst vergeblich
erstrebte.
Freilich naturalistisch
bleibt (das im einzelnen raffiniert
aufs Wesentliche stilisierte) Ganze
noch, Studienblätter, witzig ver¬
bundene Skizzen, kein Gesamt¬
kunstwerk, in dem der tiefbittre
Ernst, der hinter dieser zynischen
Desillusionierung erotischer Ro¬
mantik steckt, sich klar und fruchtbar
entfalten könnte. Dennoch sind
auch in ihrer bittern Teilwahrheit
diese Szenen viel mehr als amüsant
rivole Spielerei; weil sie ästhetisch
eine bisher noch kaum erreichte
Sprachgestaltung verstecktester psy¬
chischer Relativitäten geben, sind
sie auch ethisch nicht wertlos

eine Stärkung des Erkennens,
Zerstörung des
Phraseologischen,
Enthüllung des Wirklichen.
Wenn der Reporterverstand
solche künstlerisch vollendeten Nudi¬
täten dann nicht von banalen
Schlüpfrigkeiten unterscheiden kann,
so tut man gut, ihm ein Wort des
Mannes unter die Augen zu halten,
der mir von allen Lebenden zur
Zeit der geistreichste scheint: „Die
Prüderie der Zeitungen ist wie
die Prüderie bei Tisch nur eine
Folge der Erziehung und der
Schwierigkeit der Sprache. Man
lehrt uns nicht, über diese Themen
anständig zu denken, folglich fehlt
uns jede Ausdrucksweise — außer
einer unanständigen — für sie.