II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 261

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11. Reigen
Theater und Kunst.
Reigen.
Es war einmal vor vielen Jahren eine Stadi voll zu¬
friedener, satter Menschen; sie hielten ihr. Gegend für den
Mittelpunkt der Welt und die sorglose Jugend, besonders die
der Wohlhabenden, brachte die viele freie Zeit mit Liebes¬
abenteuern hin. Es war gebräuchlich, beiläufig zehn Jahre,
so von zwanzig bis dreißig, mit der Liebe zu spielen. Man
spielte aus Langeweile, aus Mangel an ausreichender Beschäf¬
tigung, das Gleichmaß der täglichen Geschehnisse lud dazu
und niedrig war, auch mit dem Tod, man spielte hauptsächlich
mit Worten, es gab kein Ding, würdig genug, um ernst ge¬
nommen zu werden. So war. so dachte und fühlte die Wiener
Umwelt, als Arthur Schnitzlen den damals unerhörten
Mut zum „Reigen“ fand.
Vor einem Vierteljahrhundert ein Wagnis, ein kühnes
Beginnen, einer Bravheit und Sittsamkeit heuchelnden Gesell¬
schaft den Spiegel vorzuhalten, der sie nackt zeigte im Rausch
jäh aufflammender und rasch wieder besänftigter Begierden,
war die Reihe z'erlich gedrechselter Novellen in Zwiegespräch¬
form lehrhafter Stoff, ein Dichter ließ sich herbei, über Allzu¬
menschliches zu plaudern, eine Höhe ungewohnter, nie geübter
Betrachtung entfernte die Vertraulichkeit. Das ist nun alles
anders geworden. Eine Horde minderbegabter Nachbeter hat
jede enzelne Szene des „Reigen“ mindestens siebzehnmal zu
einem Einakter versudelt. Jeder Gymnasiast weiß Bescheid, so¬
ferne er nicht gar dank seiner Leihbibliothek bis zum Studium
der, ei, so leicht verständlichen „Psychopathia sexual's“ vorge¬
drungen ist. Nicht eine Gemeinde Aufhorchender, sondern eine
Herde Wissender, und ärger als das, die ganz große Menge, die
sich seit vierundzwanzig Jahren so hoch die Leiter Zivilisation
emporgeschwungen hat, daß sie bei ähnlichen Gelegenheiten
denkt, wie es ihr ein gutgelaunter Dritter laut vorgedacht hat,
sie wird im breiten Nachgefühl selbsterlebter Niedrigkeit behag¬
lich schwelgen. War's damals, als die übermütige Idee an¬
geflogen kam, so gemeint?
Wenn der Gedanke, der Einfall unabweislich nach Ge¬
staltung drängt, dann wählt das Feingefühl die Kunstform.
Schaumwein will aus dünnem Glaskelch getrunken sein, Bier
aus Krügen. Bliebe eine Novelle Maupassants, für die Bühne
bearbeitet, das reizende, einmalige, unübertreffliche Ku#stwerk
Die Aufführung in den Kammerspielen des
Deutschen Volkstheaters nimmt den zehn Szenen
den heißen, stockenden Atem, die Sp elleitung (Dr. Schul¬
baur) weiß, weshalb sich die Leute ins Theater drängen
werden. De Temperatur der schwülen Zwiegespräche wird künst¬
lich herabgesetzt, der heiße Hauch erregter Sinne ist nicht mehr
spürbar, es ist ein gut gekühlter „Reigen“, nicht der ursprüng¬
liche, nicht das abgerundete, abgeglichene Werk; ein Zwitter.
Die Tänzerinnen im Reigen, Hedwig Keller, Traute
Carlsen, Marietta Olly, und der köstliche Graf und
Husarenoberleutnant Hans Lackner machen die Unterhal¬
tungen über und rund um den Be schlaf erträglich. Wehe aber,
wenn ein unbekümmerter, geschäftstüchtiger Spielleiter den
wirklichen, den unverschleierten „Reigen“ aufzuführen unter¬
nimmt: dann ist es mit der einmaligen Geldausgabe für den
Sitzplatz nicht getan. Ist das die Aufgabe des deutschen
Walter.
Theaters?
N116 19.7
Asent
Wier

THEATER
Eine Aktion der Christ¬
lichsozialen gegen den
10
„neigen !
Eine Ankündigung in der „Reichspost“.
Die „Reichspost“ bringt heute einen
mit ungewöhnlicher Heftigkeit ge¬
schriebenen Artikel über Sch###¬
lers=„Reigen“ und dessen Auf¬
führung. Im Laufe dieser Ausführungen wird
an die Behürden „mit aller Strange“ das Ver¬
Wiener Mitt## Leitung,
77
bruar 1921
Nr. 25

langen gestellt, „dieser volksver¬
giftenden Schmach“ ein Ende zu
bereiten.
Der Artikel schließt: „Bei höchsten Preisen,
wie sie bloß den Verhältnissen übelster Ver¬
diener angepaßt sind, soll jetzt eine lange
Serie von „Reigen“=Aufführungen
beginnen. Schnaufende Dickwänste mit ihrem
weiblichen Anhange, der den Namen der deut¬
schen Frau schändet, sollen sich jetzt dort all¬
abendlich ihre im wüsten Sinnentaumel er¬
schlaften Nerven aufkitzeln lassen. Allein
wir gedenken den Herrschaften
das Vergnügen bald zu verleiden.
Das glauben wir unserem Wiener Theater,
unserem Volke und nicht zuletzt auch den Künst¬
lern schuldig zu sein, die dazu verurteilt sind,
sich Abend für Abend vor solchem Publikum
aller Scham zu begeben. Schluß mit den
„Reigen“=Aufführungen!“
Es ist äußerst befremdend, daß nach der
Urteilsfällurg seitens der kompetenten Zensur¬
stelle, eine solche publizistische Attacke unter¬
nommen wird. Und kaum glaublich, daß sie
ohne Rückhalt unternommen wurde.
Es wird sich nun zeigen, ob Wien die
Berliner Blamage der „Reigen“
Hetze mitmachen wird. Jedenfalls muß
man entschieden dagegen protestieren, daß
aus politisch=moralistischen Gründen
künstlerische Ereignisse — und ein solches ist
die „Reigen“=Aufführung zumindest implieite —
estört werden.