11. Reigen
box 17/5
EICFSPOST,
Nr. 31
1. Februar 1921
schönen Künste so grausame Fesseln anlegte, war selbst
das Buch verboten. Jetzt hat man Gelegenheit, dirses
erlesene Kunstwerk auf der Bühne zu sehen.
Es fällt einigermaßen schwer, dieser wahrhaftigen
Schandtat gegenüber, die sich da ein Wiener Theater
leistet, kühles Blut zu bewahren. Unter den traurigsten
Verfallserscheinungen, welche die Abwärtsbewegung der
neumodischen „Theaterkultur“ kennzeichnen, bedentet
diese Aufführung des „Reigens“ den bisher tiefsten Tief¬
stand. Das alte Wort, daß alles schon dagewesen sei, wird
hier Lügen gestraft. So was wax noch nicht da. Diesen
1. Februar 1921, diesen Tag, an dem es eine Wiener
Bühne ungestraft wagen durfte, sich zum Schauplatze
geilster pornographischer Literatur zu machen, den müssen
wir uns gut merken. An diesen Tag werden wir die Be¬
hörden erinnern, wenn sie über den fortschreitenden
Sittenverfall klagen. Wenn man in den Theatern solche
Hochschulen für Schmutz und Laster duldet, dann darf
man sich eben über die Folgen nicht wundern, dann darf
man nicht lamentieren, daß die Razzien in den Stunden¬
hotels immer traurigere Ergebnisse liefern, dann dürfen
unsere Herren Volksrichter nicht betreten die Köpfe
schütteln über die ganz unglaublichen Kriminalfälle, die
ihnen zu schaffen geben, dann muß man die Abteilungen
für Geschlechtskranke in den Spitälern freilich vergrößern.
Nach der Polizei, nach dem Zensor zu schreien gilt gemein¬
hin als übles Zeichen von Rückständigkeit. Nun denn,
wir haben schon den Mut, so rückständig zu sein. Wir
tun es mit Stolz und im vollen Bewußtsein unserer Ver¬
antwortung. Wir verlangen von den Behörden, die uns
ja auch vor dem Umsichgreisen einer Pest zu bchüten die
Pflicht haben, daß sie dieser volksvergiftenden Schmach
sofort ein Ende bereiten. Wir verlangen es mit aller
Strenge und werden gewiß nicht müde werden, auf
Mittel zu ennen, die diesem wahrhaftig gerechten Ver¬
langen Nachdruck zu geben vermögen. Ach ja, wir kleri¬
kalen Mucker, wir Finsterlinge, wir haben ja mit ähn¬
lichen Schmerzen das Ohr der Oeffentlichkeit oft genug
belästigt, wir haben gegen Wedekind und Schönherr und
Sternheim gewettert, wir haben uns schon zu wieder¬
holten Malen als scheuklappentragende Kunstfeinde pro¬
duziert. Diesmal aber sind uns sogar aus Kreisen, die
uns sonst verächtlich zu belächeln pflegten, Bundesgenossen
erstanden. In Berlin hat sich ein Maximilian Harden
in heller Empörung gegen die dortigen „Reigen“= Auf¬
führungen aufgelehnt und ein Moissi hat sich gar zu dem
Ausspruche verstanden, jede Schauspielerin, die im
„Reigen“ mitspiele, verdiene angespuckt zu werden (was
wir ihm wahrhaftig nachfühlen können). Das sind denn
doch unverdächtige Zeugen dafür, daß man kein „Zelot“
zu sein braucht, um über diese arge Schmach, die da
dem Theat#r und dem Publikum angetan wird, in
flammende Wut zu geraten. Auch Leute, die sonst in
Fragen der Sittlichkeit ein sehr weites Herz bekundet
haben, müssen, soforne sie sich nur einiges Gefütt für
Reinlichkeit und Anstand bewahrt haben, diesmal an
unjere Seite treten.
Mit dem Dichter Schnitzler abenrechnen ist eigentlich
ein wenig verspätet, denn er hat biese penrtrante Dialog¬
reihe vor Jahrzehnten geschrieben. Natürlich hätte er,
der uns inzwischen doch wesentlich masollere Proden¬
seines Könnens geliefert hat (darunter den in gewissen
Sinne sogar anständigen „Jungen Medardus“) sich
nicht — offenbar dem Geschäft zuliebe — verleiten lassen
sollen, diese übelduftende Jugendsünde aus ihrer Buch¬
vergessenheit hervorzuholen und damit das Theater zu
verunreinigen. Es gibt einen „Frau-von=Pollak“=Witz
(wie deren die Juden genug und mit Behagen zu er¬
zählen wissen), da leistet sich diese Dame, deren Bildung
mit ihrem Reichtume nicht Schritt zu halten vermag, das
unfreiwillige Wortspiel, zu einem gräflichen Besucher zu
sagen: „Ich danke Ihnen. Herr Graf! Sie haben mein
Haus zu einem Freudenhause gemacht!“ — Mit dem
„Reigen“ hat Schnitzler das Theater, das uns ein Haus
er Frenden sein sollte. zu einem Freudenhause, zum
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EICFSPOST,
Nr. 31
1. Februar 1921
schönen Künste so grausame Fesseln anlegte, war selbst
das Buch verboten. Jetzt hat man Gelegenheit, dirses
erlesene Kunstwerk auf der Bühne zu sehen.
Es fällt einigermaßen schwer, dieser wahrhaftigen
Schandtat gegenüber, die sich da ein Wiener Theater
leistet, kühles Blut zu bewahren. Unter den traurigsten
Verfallserscheinungen, welche die Abwärtsbewegung der
neumodischen „Theaterkultur“ kennzeichnen, bedentet
diese Aufführung des „Reigens“ den bisher tiefsten Tief¬
stand. Das alte Wort, daß alles schon dagewesen sei, wird
hier Lügen gestraft. So was wax noch nicht da. Diesen
1. Februar 1921, diesen Tag, an dem es eine Wiener
Bühne ungestraft wagen durfte, sich zum Schauplatze
geilster pornographischer Literatur zu machen, den müssen
wir uns gut merken. An diesen Tag werden wir die Be¬
hörden erinnern, wenn sie über den fortschreitenden
Sittenverfall klagen. Wenn man in den Theatern solche
Hochschulen für Schmutz und Laster duldet, dann darf
man sich eben über die Folgen nicht wundern, dann darf
man nicht lamentieren, daß die Razzien in den Stunden¬
hotels immer traurigere Ergebnisse liefern, dann dürfen
unsere Herren Volksrichter nicht betreten die Köpfe
schütteln über die ganz unglaublichen Kriminalfälle, die
ihnen zu schaffen geben, dann muß man die Abteilungen
für Geschlechtskranke in den Spitälern freilich vergrößern.
Nach der Polizei, nach dem Zensor zu schreien gilt gemein¬
hin als übles Zeichen von Rückständigkeit. Nun denn,
wir haben schon den Mut, so rückständig zu sein. Wir
tun es mit Stolz und im vollen Bewußtsein unserer Ver¬
antwortung. Wir verlangen von den Behörden, die uns
ja auch vor dem Umsichgreisen einer Pest zu bchüten die
Pflicht haben, daß sie dieser volksvergiftenden Schmach
sofort ein Ende bereiten. Wir verlangen es mit aller
Strenge und werden gewiß nicht müde werden, auf
Mittel zu ennen, die diesem wahrhaftig gerechten Ver¬
langen Nachdruck zu geben vermögen. Ach ja, wir kleri¬
kalen Mucker, wir Finsterlinge, wir haben ja mit ähn¬
lichen Schmerzen das Ohr der Oeffentlichkeit oft genug
belästigt, wir haben gegen Wedekind und Schönherr und
Sternheim gewettert, wir haben uns schon zu wieder¬
holten Malen als scheuklappentragende Kunstfeinde pro¬
duziert. Diesmal aber sind uns sogar aus Kreisen, die
uns sonst verächtlich zu belächeln pflegten, Bundesgenossen
erstanden. In Berlin hat sich ein Maximilian Harden
in heller Empörung gegen die dortigen „Reigen“= Auf¬
führungen aufgelehnt und ein Moissi hat sich gar zu dem
Ausspruche verstanden, jede Schauspielerin, die im
„Reigen“ mitspiele, verdiene angespuckt zu werden (was
wir ihm wahrhaftig nachfühlen können). Das sind denn
doch unverdächtige Zeugen dafür, daß man kein „Zelot“
zu sein braucht, um über diese arge Schmach, die da
dem Theat#r und dem Publikum angetan wird, in
flammende Wut zu geraten. Auch Leute, die sonst in
Fragen der Sittlichkeit ein sehr weites Herz bekundet
haben, müssen, soforne sie sich nur einiges Gefütt für
Reinlichkeit und Anstand bewahrt haben, diesmal an
unjere Seite treten.
Mit dem Dichter Schnitzler abenrechnen ist eigentlich
ein wenig verspätet, denn er hat biese penrtrante Dialog¬
reihe vor Jahrzehnten geschrieben. Natürlich hätte er,
der uns inzwischen doch wesentlich masollere Proden¬
seines Könnens geliefert hat (darunter den in gewissen
Sinne sogar anständigen „Jungen Medardus“) sich
nicht — offenbar dem Geschäft zuliebe — verleiten lassen
sollen, diese übelduftende Jugendsünde aus ihrer Buch¬
vergessenheit hervorzuholen und damit das Theater zu
verunreinigen. Es gibt einen „Frau-von=Pollak“=Witz
(wie deren die Juden genug und mit Behagen zu er¬
zählen wissen), da leistet sich diese Dame, deren Bildung
mit ihrem Reichtume nicht Schritt zu halten vermag, das
unfreiwillige Wortspiel, zu einem gräflichen Besucher zu
sagen: „Ich danke Ihnen. Herr Graf! Sie haben mein
Haus zu einem Freudenhause gemacht!“ — Mit dem
„Reigen“ hat Schnitzler das Theater, das uns ein Haus
er Frenden sein sollte. zu einem Freudenhause, zum