II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 274

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Reigen
schönen Literatur gehörend gelten lassen wollten. Aber auch
die anderen, Vorurteilsloseren, die den „Reigen“ als ein
reizendes Kunstwerk sui generis, etwa in der Art der
Liaisons dangereuses, gelten lassen, erklären mehr oder
minder vernehmlich, er gehöre nicht auf die Bühne. Der
Dichter selbst schien bis in die allerjüngste Zeit dieser
Meinung, hat sie allerdings geändert. Was hat diese Aen¬
derung bei ihm herbeigeführt? Vielleicht das Theater selbst,
das über Empfindungen, die zu schonen er sich bemüssigt
fühlte, jüngstens immer unbekümmerter sich hinwegsetzt. In¬
mitten einer eindeutigen Bühnenliteratur von zunehmender
Verwilderung, die die heikelsten Verborgenheiten des Liebes¬
lebens in einer den Geschmack oft gröblich verletzenden
Weise auf das Theater reißt, zeichnet sich der „Reigen
ebensosehr durch Geschmack und künstlerische Feinheit aus
als er an Gewagtheit hinter demjenigen, was jetzt gang und
gäbe ist, zurückbleibt.
Diefen Eindruck zu verstärken, war die Darstellung in
den „Kammerspielen“ sichtlich und mit Erfolg bemüht. Sie
ließ die geistigen Elemente der Dichtung — der „Reigen
ist eine Dichtung — stärker hervortreten und glitt über den
physiologischen Punkt mit großer Behutsamkeit hinweg. Zu
diesen geutigen Elementen gehört vor allem die Idee des
„Reigen, die, hier zum erstenmal in eine poetische Gestalt ge¬
bracht und Schnitzlers preigenstes geistiges Besitztum bildend,
dem Werk für sich allein eine gewisse literarhisworische
Bedeutung sichert. Was Schnitzler bei der Aneinanderfügung
dieser lockeren und doch im tieferen Sinne zu einer geistigen
Einheit verbundenen Szenenkette vorgeschwebt haben mag
war wohl der Gedanke, ein Seitenstück zu den um die Wende
des Mittelalters so beliebten Totentänzen gewisser deutscher
Maler auf dem Gebiete der Liebe zu schaffen. Wie dort der
Tod eine nach Ständen gegliederte Welt nach seiner Fiede
anzutreten und in seinem Reigen mitzutanzen zwingt, so setzt
hier die Liebe eine gleichfalls noch ständisch abgestufte
Menschheit mit ihrem Wink und Ruf in Bewegung. Die
Dirne reicht dem Soldaten die Hand, der Soldat dem Stuben¬
mädchen, das Stubenmädchen dem jungen Herrn, der junge
Herr der jungen Ehefrau, die Ehefrau ihrem Gatten, der
Gatte dem süßen Mädel, das süße Mädel dem Dichter, der
Dichter der Schauspielerin, die Schauspielerin dem Grafen
#d der Graf der Dirne. Höber treibt der tros alledem
bürgerlich empfindende junge Schnitzler den Reigen nicht
staltung, welche Feinheit
empor im Gegeisatz zu jenen Totentänzen, die auch vor Kaiser
welche Fülle von Geist in
und Papst nicht haltinachen. Aber wie tiefsinnig und schön
provisierten Szenen. Wi
gedacht ist trotzdem diese Aneinanderreihung, in der jede
Menschen, die er für ein pa
Person zweimal auftritt und, mit beiden Armen in den
und in wieviel Anmut w#
Reigen der Liebe eingebunden, an der einen Hand von der
verbergen. Schnitzlers Die
medrigeren Liebesstufe festgehalten, zugleich die andere nach
schon ganz was er in seine
der nächsthöheren emporstreckt. Bon Balzac stammt die
geworden ist: angewandte
Theovie von den Deux hommes, den beiden Männern, auf
dem dargestellten Vorgang
die jede Frau Anspruch hat, und die sich, platonisch oder
ins allgemeine übergreift,
nicht, im Leben faft einer jeden begegnen. Aber ist es bei
gründe entschleiert. Wie
den Männern anders? Ist diese Bipolarität des Liebes¬
Charakterbild der lüstern¬
einpfudens nicht vielmehr eine allgemein menschliche Eigen¬
blicken wir durch die Tür
schaft, wenn sie auch der mmer galante Franzose in erster
hinein und durch die Ehe,
Reihe der Frau zugesteht? In der Gruppierung des
Szene unter unseren Auger
Schnitzlerschen „Reigens“ findet diese allgemeinere und
seits dieser, im Tiefsten ver
darum phlosophischere Anschauung ihren künstlerischen Aus¬
glück sucht und findet. Wie
druck, und noch etwas anderes wird in ihr deutlich:
die
komische Familienleben des
Erkenntnis, daß die Liebesschuld, wie die Erbsünde, von
enthüllt sich uns die vom 2
Paar zu Paar weiterwandernd, am Ende jeden von uns zu¬
lose Kasinoschwärmerei des
gleich zum Angeklagten und zum Opfer macht. Wir alle sind
der „Schauspielerin“, diesc
nur allzigeneigt, in der Dirne einen widerlichen Schandfleck
studie, die fast schon eine
der Mensthheit zu erbüecken, ohne zu bedenken, daß jeder,
reden. In diesen letzten Szen
der ohne wahre Liebe ein Weib umarmt, und jeder, der sich
vom heitersten Lustspielgeif
um die Folge einer Umarmung lügenhaft herumdrücken, die
zur Erheiterung des Zuscha
Verantwortung dafür von sich abwälzen möchte, den Stand
zulässigsten Mittel bedient.
der Dirnen mittelbar vermehrt und dadurch mittelbar doch
diesen lustspielhaften Auftrit
wieder nur an sich selbst, an seinem eigenen Geschlecht frevelt.
die vom Stoff und dem ster
So angesehen ist der „Reigen", was man ihm am
unabhängig bleibt.
wenigsten ansehen würde, sogar ein moralisches Werk, und
Nach so viel Lob wir
wenn ihm in dieser Hinsicht ein Vorwurf zu machen ist, so
schränkungen machen müsse
ist es nur der, daß er diese Moral, die latent in ihm vor¬
sich, wohl aber seine unein
hunden ist, mugends deutlich hervortreten läßt. Hiedurch
noch mehr seine öffentliche
iterscheidet er sich von den Liaisons dangereuses, in denen
ist klar, daß der „Reigen
der Auter, wenigstens am Schlusse, aus dem Standpunkt,
und wahrscheinlich längere
den er der von ihm geschilderten Sittenverderbnis gegen¬
mehr einem Mißverständnis
über einnimmt, kein Geheimnis macht.
Publikums zu danken habei
F##dem ist der „Reigen“, als Buch, schon durch die
auch insofern nicht auf die #
Idee geadeit, und er ist es in nicht geringerem Maße durch
vorgang, in den jede einzelne
ihre künstlerische Durchführung. Von den Eingangsszenen
noch szenisch darstellen läßt.
abgesehen, die sich in jedem Sinne vor der Linie des wiene¬
und ingeniöseste Inszenierm
rischen Stadtbildes abspielen, welche Meisterschaft der Ge¬ auch die geschmackpallste. d