II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 296

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11. Reigen
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DIE WAGE
5. U. 1921.
weilten Vorstellung Austrittskarten zu lösen. Es ist also wolll
ist: Ein namhafter Künstler des Theaters, behutsamer Künstler
eine Zeit, in der ein Dramatiker von Ansehen besonderen
der Hand noch dort, wo kein unerbittlicher Trieb sie regiert,
Grund hat, seiner alten Sendung um so fester sich bewußt,
erlaubt die Überschreitung der Grenze zwischen dem Theater
den Gesetzen seiner Kunst und der mit diesen eng verbundenen
und anderen. beliebteren Vergnügungsorten, während er dem
Aufgabe der Bühne durch jedes neue Hervortreten seine Ehr¬
Range nach zum Grenzschutz bestellt ist. Die Menge der
furcht zu bezeigen.
oberen Hunderttausend gröhlt.
Artur Schnitzler ist ein Dramatiker von Ansehen. Es ist
Mag man es immerhin Mißdeutung nennen, wenn sie diese
hier nicht zu untersuchen, bis zu welchem Grade dieses An¬
Vorführung nur jener Akte, wegen besucht, die keine Theater¬
sehen durch eine dichterische Anschauung gedeckt ist und in¬
akte sind; wenn sie etwa einem freundlichen Kritiker, der den
wieweit es auf Momenten außerkünstlerischer Art, etwa stoff¬
„Reigen“ ein Meisterwerk der Gattung nennen würde, in
lichen, lokalen, gesellschaftlichen, beruht. Jedenfalls hat das
ihrem Sinne zustimmte: der Torwächter selbst hat, indem
Lebenswerk des Dichters in hohem Maße die Fähigkeit, Liebe
er der Aufführung Tor und Tür öffnete, sie jeder Auffassung
zu erwecken; jedenfalls sind hier ein repräsentativer Mann
geöffnet. Freilich: so zwiespältig, so in einem tieferen Sinne
und seine Pflicht.
zweidentig ist dieses Ereignis, daß auch jene Leute nicht auf
Dieser Pflicht war Artur Schnitzler, als er zur „Aufführung
ihre Rechnung kommen werden. Die „Flamme“ im Herzen,
des „Reigen“ seine Zustimmung gab, nicht eingedenk. Wie
werden sie das Theater betreten und, trotz allem — Artur
wäre es sonst zu begreifen, daß der Meister einer Form sich
Schnitzler finden. Keine tragische Berührung allerdings (so
einverstanden erklärt mit der theatralischen Vorführung eines
Arges wird ihnen nicht geschehen), auch kein Lustspiel, sondern
Werkes, das abseits von dieser Form entstanden ist und sogal
nur Spiele der Lust — aber eben doch Schnitzler. Also auch
nach des Urhebers eigenem Zeugnis nic für das Theater (ja
in diesem Lager Enttäuschung! Und von der Bühne der Roland
nicht einmal zur Veröffentlichung) bestimmt war? Muß es
werden die Enttäuschten zur Rolandbühne flüchten, worsie
det: dramatisch Strebenden, der im Gewirr der falschen und
cher befriedigt werden dürften, wenn man dort nicht gerade
unlauteren Aspirationen auf das Theater nach Vollendung ringt,
die „Weihnachtseinkäufe“ von Artur Schnitzler spielt.
nicht schmerzlich berühren, wenn er sieht, wie ein so oft als
Schnitzler hat wohl kaum der unvergeßlichen Uraufführung
echt und lauter Bewährter im wichtigen Augen¬
der „Büchse der Pandora“ beigewohnt, durch die Karl Kraus
blicke sich verleugnet, die Fahne der Innung sinken
dem bis dahin als eine Art Lieber Augustin der Sexualität in
läßt und ein anderes, trübes Zeichen aufsteckt? Darin
Kabaretts auftretenden Wedekind die tragische Bühne erschloß.
scheint mir der sittliche Fehler dieses Falles — eines Falles
Auch ein Grenzübertritt — doch welch ein Unterschied! Ich
in jedem Sinne — zu liegen, daß ein Berufener die Begriffs¬
weiß nicht, mit welchen Erwartungen die Mehrzahl des ge¬
verwirrung mehrt, die hinsichtlich dessen, was des Theaters
ladenen Publikums damals ins Theater kam, aber bin Zeuge
ist und nicht ist, noch niemals so turbulent war wie jetzt.
der Empfindungen gewesen, mit denen es dieses verließ.
Ich habe es bereits eingangs kurz gesagt: Ein Kreis von
Dieser Abend gehört der Literaturgeschichte an. Die Auffüh¬
Zwiegesprächen, deren jedes einen Bogen dieses Kreises bildet,
rung des „Reigen“ wird höchstens ein Kapitel der literarischen
aber keinen in die dritte Dimension gspannten, alsc drama¬
Sittengeschichte bilden.
tischen, gehört nicht auf die Bühne. Diese Dialoge haben ein
Karl Kraus hat selbst einen Reigen geschrieben. Wagen¬
Vorher und Nachher, kein gestuftes Hintereinander, einen
knechte tanzen ihn mit Generalstäblern und er heißt: „Die
Höhepunkt, der nichts als ein Mittelpunkt ist und übrigens dem
letzten Tage der Menschheit“. Derselbe Theaterleiter, der,
Auge des Zuschauers entrückt werden muß, was allein schon
ich zweifle nicht daran, der eigentliche Anstifter der Vorfüh¬
ein klarer Beweis für das Bühnenwidrige der ganzen Vor¬
rung des „Reigen“ ist, hat auch nach der Tragödie des Krieges
führung ist. Denn ein Höhepunkt, dessen Darstellung im Fallen
seine Hand ausgestreckt. Kraus hat sie nicht ergriffen. Mochte
eines Vorhangs oder in der Verdunkelung der Bühne besteht,
ihm für die durch keine Aufführung erreichbare Gewalt seiner
ist dramatisch ein Unsinn. Man kann also diesen Reigen im
Szenen bloß ein, kosmisches Theater“ weit genug erscheinen,
Wesen ebensowenig aufführen wie eine Novelle, wäre sie auch
mochte dem letzten großen Burgschauspieler der Vortragstisch
mono- oder dialogisiert, ebensowenig wie — ganz drastisch
als Bühne genügen — er hat durch diese Haltung auch für
gesprochen — den Briefwechsel zwischen Schiller und Gosche
den überlieferten Rahmen des Theaters gewirkt, dem er eine
oder die Kritik der reinen Vernunft. Auch ein Gedicht von
Zersprengung ersparte. Er, der „Niederreißer“, hat eine kon¬
Rilke ist unaufführbar, und daß es mit der Konstantin in der
servative Pflicht erfüllt. Der bürgerliche Dramatiker hat sie
Titelrolle immerhin ein Zugstück werden könnte, vermag
hintangesetzt.
meine dramaturgischen Bedenken nicht zu zerstreuen.,
Schnitzler hat Schüler. Ob ihm diese Bezeichnung für
Alle diese Einwände hätten, wie man sieht, auch dann
Leute, die seinen Stoff- und Erlebniskreis berauben und oft
Geltung, wenn der Gegenstand des „Stückes“ einem dezenten
durch skrupellose Vergröberung bloßstellen, recht ist, weiß
Familienprogramm zur Zierde gereichte. Daß im Gegenteil
ich nicht. Er hat diese Erscheinungen jedenfalls niemals öffent¬
der „Reigen“ einen schon vor seiner Abfassung ziemlich allge¬
lich abgeschüttelt, was gewiß persönlich vornehm, aber künst¬
mein bekannten Inhalt hat, bildete bisher das einzige Argu¬
lerisch nicht gerechtfertigt ist. Diese „Schüler“ hätten jetzt
ment der Aufführungsgegner. Aber auch dieser Umstand er.
durch ernsten Einspruch bei dem Manne, dem sie ihre Existenz
scheint mir nur deshalb ethisch belangvoll. weil er es ästhetisch
verdanken, ein wenig von dem gutmachen können, was sie