II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 295

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Reigen
5. Ul. 1921.
DIE WAGE
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anderen gestalten eine Erinnerung, Brezina gegenwärtigstes
„Einmal, o einmal wirst du kommen, Mädchen, mit dunklen,
Leben; er ist ein Kind geblieben, fromm, unbefleckt vom Lärm
glanzlosen Augen, Mohn in den Händen.“
der Großstadt.
Mohn in den Händen, um die qualvoll Lebenden zu be¬
Er soll klein und bucklig sein und in einem welt¬
täuben, denen, wie der Dichter sagt, eines als ewiger und ein¬
verlassenen mährischen Dorf als Lehrer leben, von Bauern
ziger Trost bleiben muß: Branntwein!
und Kindern wie ein Heiliger verehrt. Ob es wahr ist, weiß
Liebe? Liebesgedichte? Nichts als die Ostrauer Land¬
ich nicht. Aber es könnte so sein. Seine Schrift ist sehr
schaft, dieses schmutzige, kohlenschwarze traurige Gelände.
merkwürdig, groß, monumental und ein wenig unbeholfen. Die
Der Dichter spricht das Wort dieses Volkes, er spricht es im
Übersetzungen, die von Brezinas Werken vorliegen, können
Dialekt dieser Gegend, hart, roh, barbarisch und mit größter
keinen Begriff von dem Original geben. Sie lassen es ahnen
bezwingender dichterischer Gewalt. Der Haß gegen den
und das ist für eine Übersetzung mitunter sehr viel. Man
Grubenbesitzer: „der Guttmann, der Rothschild, Graf Larisch
hat ihn einmal mit dem indischen Dichter Rabindranath Tagore
und Wilczek“ und der Haß gegen den Gutsbesitzer dieser
verglichen. Abgeschen davon, daß wir uns von den Ori¬
Gegend, Erzherzog Friedrich. Die Gestalt dieses Dummkopfes
ginalen des Dichters, die sehr kunstvoll gereimt sein sollen,
wird in Bezrucs Figur vom Marquis Gero zur gräßlichen Per¬
keine Vorstellung machen können, ist dieser Vergleich unzu¬
sonifikation jeder Gemeinheit und Niederträchtigkeit. Der
treffend. Brezina ist viel unmittelbarer; wo Rabindranath
Atem des Dichters hat sie zu furchtbarer Größe geschaffen;
Tagore Nerven hat, hat Brezina Gefühl.
seine wildesten Flüche gelten ihr.
Wenn Vrchlicky der Dichter des Hellenentums genannt
Bezrué hat ein einziges Buch geschrieben: „Die schlesi¬
wurde, der bewußt schaffende Künstler, der in Worten und
schen Lieder“, das in ganz ausgezeichneter Übersetzung (einige
Formen denkende Lyriker, dann ist Brezina der große Christ
Gedichte fehlen!) in deutscher Sprache vorliegt.
ohne Demut (ohne den Begriff der Demut, wie ihn die katho¬
Bezruc ist das Symbol der kommenden (nicht bürgerlichen)
lische Kirche geformt hat), der gläubige und ganz intuitive
tschechischen Revolution.
Dichter, der nicht in der Form, der im Klang denkende. Eines
seiner schönsten Gedichte heißt: „Motiv aus Beet¬
An den größten lebenden tschechischen Dichtern wurde
hoven“ da es Otto Pick sehr gut übersetz
versucht, die tschechische Moderne zu zeigen. Die böhmische
hat,seies vorallem hier erwähnt.
Dichtkunst stcht auf einem Höhepunkt ihrer Entwicklung. Sie
Otokar Brezina ist der Europäer, der Mensch slawischen
ist nach der (immerhin interessanten) Literatur eines kleinen
Geistes.
Volkes, nach bitteren und ermüdenden Kämpfen um die eigene
Ein Mann, dessen wahren Namen man jahrelang nicht
Sprache in die Weltliteratur eingetreten. Sie spricht nicht mehr
wußte, ebensowenig wie seinen Beruf, man glaubte, er sei
nur allein zum eigenen Volk, sie spricht zur Erde.
Bergmann oder Postamtsdiener (die Deutschen haben einen
Postdirektor, nämlich Herrn Max Brod, der postalisch sehr
Oskar Jellinek.
M A
gut sein soll), das ist Petr Bezruč. Er kommt aus dem Ostrauer
Epilog vor der Hufführung des „Reigen“.
Grubenrevier, in dessen Dialekt er schreibt. Eine einzige
In den Kammerspielen des Deutschen Volkstheaters soll
Melodie hat sein Lied: das Dröhnen der Ostrauer Maschinen,
dieser Tage Artur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ zur Aufführung
der Witkowitzer Hämmer, der Hochöfen, der Schächte: Kohle,
gelangen ... Oder der „Reigen“? Der Monolog oder die
Kohle, Kohle. Er ist in diesem von Polen und Tschechen um¬
Dialoge? Gleichgültig. Beides ist unaufführbar.
kämpften Land, nationaler Tscheche. Einer von den siebzig¬
Mar kann natürlich auf der Bühne ein Paar auftreten
tausend Tschechen aus der Gegend von Teschen. Der zwei¬
lassen, das irgendein Gespräch führt. Man kann ferner dort
fache Kampf dieses seines Volkes, der Kampf mit Kohle und
dieses Gespräch von anderen Paaren wiederholen lassen. Mit
Maschine um das schmutzige Stückchen Brot und der zweite
dem Drama oder auch nur dem Theater hat jedoch eine der¬
Kampf um die wenigen Worte tschechischer Muttersprache, um
artige Darbietung nicht das Geringste zu tun. Sie bedeutet
die tschechische Schule, das ist sein Gedicht.
vielmehr eine vollkommene Mißachtung der dramatischen
Er ist der einzige revolutionäre Dichter Europas. Wenn die
Form, einen Mißbrauch mit dem Emporium der Bühne und ist
Grubenarbeiter in Ostrau streiken, fließt Blut und man plün¬
daher, auch jenseits vom Inhalt der Dialoge, ein Unfug.
dert. Dieses Blut, dieser Kampf der hoffnungslosen Sklaven,
Stümper, literarische Verbrecher und edle Monomanen
„die man immer noch zum Hungern zwingt, die Rache, die Ver¬
haben sich in unserer Zeit zusammengetan, um die ewige
heißung der Rache, das ist Bezrué. Die starren Türme und
Kunstform des Dramas fallen zu lassen, zu zertrümmern oder
Schlote des Reviers hat er zum Mythos geschaffen; Leuthen,
die Bestimmung des Theaters zu verrücken. Eine vierte
Lippina, Baschka, Witkowitz, Ostrau, Teschen, dort schlägt
Gruppe, deren richtige Bezeichnung aus ihrem unsauberen Tun
man Petr Bezruc ans Kreuz, „den komischen Barden, den
sich leicht ergibt, sorgt für die Sättigung eines nach erotischen
Don Quijote der Beskyden“.
Sensationen lüsternen Publikums, das, ob es nun zu den „neuen
Bezruč ist brutal, er weiß von keiner anderen Hoffnung
Reichen“ gehört oder schon im alten Reiche keine andere
zu singen, als vom Tag der Rache, an dem das Ostrauer
Theaterlust kannte, zu verhalten wäre, vor Beginn einer der
Grubenvolk aus den Schächten steigen wird, um die Bedrücker
tragischen Gestaltung geschlechtlicher Probleme ge¬
zu stürzen. Oder doch! Eine Hoffnung: