II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 323

11. Reigen
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Theuterzeitung.
Der Kampf um Schnithiers „Reigen“.
Gestern wurde mit vieler Bestimmtheit erzählt,
der Bundesminister für Inneres habe dem Polizei¬
präsidenten Schober nahegelegt, die weiteren
Aufführungen von Schnitzlers „Reigen“ in den
Kammerspielen, „aus Gründen der Ruhe,
Ordnung und Sittlichkeit“ zu ver¬
bieten.
Der Polizeipräsident nehme jedoch
den Standpunkt ein, daß er zu einem Verbote im
Augenblicke keine Veranlassung habe und daß er seine
weiteren Schritte von der ferneren Entwicklung der
Angelegenheit abhängig zu machen gedenke. Dermalen
bestehe kein Grund zu einem Verbot.
Tatsächlich hat bis gestern abends weder die
niederösterreichische Landesregierung als Zensurbehörde,
noch die Direktion der Kammerspiele irgend eine be¬
hördliche Verständigung erhalten. Die gestrige Vor¬
stellung nahm einen glatten Verlauf.
Wie bekannt, ist es Direktor Bernau nach
längeren Kämpfen gelungen, die Aufführung des
„Reigen“ durchzusetzen. Es gab bedeutende Hem¬
mungen, die jedoch von dem Chef der niederösterreichi¬
schen Landesregiermig, dem Bürgermeister Reumann,
überwunden wurden.
Wir haben seinerzeit alle Phasen dieser An¬
gelegenheit berichtet und wiederholen: „Reigen wurde
Statthaltereivize¬
den Zensurbeiräten, den Herren
präsident a. D. Tils, Hofrat Glossy und
Hofrat Engel zur Begutachtung überwiesen. Die
genannten Herren empfahlen eine Reihe von Re¬
touchen im Dialoge und wünschten, daß der Spiel¬
leiter die notwendige Delikatesse bei der Inszenierung
eobachten möge. Es wurde auch — der erste Fall
in Oesterreich und in Wien — eine eigene General¬
probe für die Zensurbeiräte veranstaltet und man
hörte, daß keiner der Herren an dem Werke und an
der Darstellung etwas Anstößiges gefunden hätte.
Die Première verlief anstandslos und auch bei
einer Reihe weiterer Vorstellungen gab es keine Zwischen¬
fälle. Erst letzten Montag kam es zu einer belanglosen
Ruhestörung; ein paar Exzedenten, die ohne Karten
in eine Loge drangen, wurden verhaftet und man
glaubte damit die Angelegenheit erledigt, bis gestern
das eingangs erwähnte empfohlene, aber nicht befohlene
Verbot an den Polizeipräsidenten erging.
Es bleibt nun abzuwarten, wie sich die nieder¬
österreichische Landesregierung und ihr Chef, der
Bürgermeister Reumann, zu diesem Schritte des
Ministers verhalten werden. Es kann möglicherweise
ein Kompetenzkonflikt entstehen, wer berufen erscheint,
ein von der niederösterreichischen Landesregierung zur
Aufführung zugelassenes Theaterstück zu verbieten.
In Berlin gab es wegen des „Reigen
ebenfalls Auseinandersetzungen und Parteiungen. Doch
auch in der deutschen Reichshauptstadt haben die Ge¬
richte erkannt, daß Schnitzlers „Reigen“ das sittliche
Empfinden der Zuschauer zu verletzen nicht geeignet er¬
scheint. In Berlin wird das Stück anstandslos weiter
gegeben. Man hat bisher von Störungen nichts gehört.
Anders in München, wo es, wie unsere Leser be¬
reits erfahren haben, zu Exzessen gekommen ist. In
München erfolgte ein Verbot und das Münchener
Beispiel scheint nun dem österreichischen Bundesminister
vorgeschwebt zu haben.
Aus der Theaterkanzlei kam gestern abends
folgende Notiz: „In den Kammerspielen
wird Samstag und Sonntag Schnitzlers
=Reigen auch um 10 Uhr als Nacht¬
vorstellung gespielt. Die vorhergehenden Abend¬
vorstellungen beginnin um ½7 Uhr.
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wren, I., Concordiaplatz Nr. 4
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Die Regierung im Solde
der Schande
Was die Monarchie, in der es noch ein Scham¬
gefühl gab, durch ein Verbot untersagte, das sollte
der Schamlosigkeit der Republik vorbehalten
bleiben: Schnitzlers Schandstück: „Reigen“ darf
ungescheut über die Bühnegehen. Jeder anständige
Mensch hat' es bisher unter seiner Würde ge¬
halten, sich mit diesem Schmutzstück sinnlichster
Erotik zu beflecken, es auch nur zu lesen. Und jetzt,
im Zeichen der „christlichsozialen Republik“ läßt
die Sittenpolizei diesen Schund anstandslos
passieren. Es scheint zum Wesen des Frei staates
zu gehören, daß das Laster und die Sinnlichkeit
rei und schrankenlos herrschen dürfen.
Hören wir, was die f ile Tagespresse über diese
jüdische Schweinerei schreißt.
„Ein volles Haus, wo sonst immer ein paar Kri¬
tiker und unbeschäftigte Bühnenleute ein Häuflein Zu¬
chauer bilden, Vertreter der Schauspielkunst aus allen
Wiener Gauen, Dichter und Gäste aus dem Reich der
bildenden Künste waren zur vormittägigen Probe¬
aufführung gekommen. Sie sahen und hörten und
zeigten sich nicht empört. Nicht einmal von den vielen
Damen, die in den Reihen sich drängten, hörte man
ein Zeichen der Entrüstung. Hoffentlich vollzog sich in
ihnen die Revolution wenigstens still: durch Er¬
röten. Man konnte derlei allerdings im Saale
nicht wahrnehmen, denn — Gott sei Dank
man hatte die Beleuchtung auf ein Mindestmaß
zurückgeführt. Die Szenen des „Reigen“
dem
Publikum inhaltlch darzustellen, ist nicht gut mög¬
lich. Es genüge sie anzudeuten. Man erlebt die Zu¬
sammenkunft der Dirne und des Soldaten, die zu nächt¬
licher Stunde im Freien sich treffen; man beobachtet
die Annäherung des jungen Herrn aus guter Familie
zum Stubenkätzchen, dann eines Elegants zur „anstän¬
digen“ Frau, weiter eines gesetzteren Herrn und eines
Wiener Vorstadtmädels, dann wieder eines Dichters
und später eines gräflichen Offiziers und einer be¬
rühmten Schauspielerin. All diese. Zusammenkünfte
spielen sich meist nächtlich ab. Entweder in einem
Donaugebüsch des Praters, oder im Junggesellenheim,
n einem Chambre separee oder im Boudoir einer Diva.
Der Höhepunkt der Szene ist immer derselbe. Er kün¬
digt sich dadurch an, daß die Bühne vollkommen ver¬
dunkelt wird und eine Zeitlang wie ein schwarzer
Riesenfleck dem Publikum entgegenstarrt. Und man
fühlt es immer als eine Erleichterung, daß der Be¬
leuchtungsinspektor dem Dichter in die Arme fällt ...
Namentich die ersten im nächtlichen Prater sich ab¬
pielenden Szenen flößen arges Unbehagen ein. Später,
wenn der „Reigen in die Sphäre gebildeter Menschen
gerät, spielen sich die Dinge nicht mehr so brutal ab.
Auch lenkt der Dialog, aus dem der Geist eines dichte¬
rischen Menschen= und Weltenbeschauers zu sprechen be¬
ginnt, die Aufmerksamkeit vom Scheußlichen ab. Wenn
es auch — im Boudor geradeso wie auf der Praterwiese
auf der Bühne kohlrabenschwarz werden muß. Man
hat Schnitzlers „Reigen“ vielfach als ein seiner unwür¬
diges, schamloses Machwerk verschrien. In der ge¬
zähmten Gestaltung der Bühne treten die Brutalitäten
nehr zurück. Die Menschen selbst treten vor und werden
mit einer Erbarmungslosigkeit durchleuchtet, die nur
ein großer Kenner trifft. Nur diese Kunst, die genial¬
chmissige Zeichnung der Figuren — jeder Mann und
jede Frau ein vollendeter Typus eines ganzen Ge¬
chlechtes —
kann den „Reigen“ vor dem Verdam¬
mungsurteil schützen, ein pornographisches Werk zu sein.
Nun aber der Höhepunkt der Schande. Die¬
selbe Tagespresse berichtet nämlich weiter:
„Artur Schnitzlers Dialogreiche „Reigen“ ge¬
langt in öffentlicher Generalprobe zugunsten des vom
Bundesminister Dr. Josef Resch geleiteten Kinder¬
hilfswerkes heute Sonntag (30. Jänner) um halb 11
Uhr in den Kammerspielen zur Aufführung.
Wer noch einen Funken sittlichen Empfindens
in sich verspürt, für den gibt es nur eines: „Hin¬
weg mit einer Regierung, die solches gestattet, um
dann als Lohn das Schandgeld ju ein „Kinderhilis¬
Sch.
werk dankend in Empfung zu nehmen!“