II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 361

11. Reigen
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irgesprach 1921.
„sitztliche Entrüstung“.
(Bespiflaltsruht des „Neuen Wiener Journals“.)
In den trot aller Bestimmung des Mietamtes mit richr
meist ganz netten Ziffer zu multiplisterenden vier Wänden reicher
Leute ist es heuer schon ohne jedes Gefühl einer Gesetzesübertretung
wettaus gemütlicher als in den letzten Jahren. Der Verbrauch
von Kohle und elektrischem Licht ist trotz aller noch bestehenden
Vorschriften nicht mehr eine Angelegenheit der Einhaltung vom
Bestimmungen, sondern einsach eine Kassensrage geworden, und
die herumgereichten Delikatessen —— Hier beginut der tief
einschneidende Unterschied zwischen den Jourbetrachtungen von
1921 und denen der knapp davor liegenden Jahre. Heuer
gehött es wieder, wie einst in glücklicheren Zeiten, zu
den Taktlosigkeiten, vom Essen und von Lebensmitteln zu reben.
Die materiell ausgezeichget fundierte Vornehmheit des Hauses
dokumentiert sich in Sandwiches aus weißem Broi mit Gansleber¬
astete, Hummer und allen sonstigen Leckerbissen, die von jeher
einen Jour verschönern, der Würjelzucker zum englischen Tee, die
Faschingskrapfen und Eisbomben sind einsach so selbstverständlich,
wiederholen sich so unabänderlich, in allen Häusern, die Güste
bei sich sehen, daß man sie bereits ats sensationslose Jourmode
bezeichnen kann. Darüber verliert man kein Wort, will man nicht
als Peuling gelten, der von den landläufigsten Dingen keine
Ahnung hat.
Eine gütige Jourvorsehung hat jedoch so reichlich für
anderen Gesptächsstoff gesorgt, daß man sich ganz gut darauf
beschränken kann, die gebotenen Delikatessen allein mit Genuß zu
esten, obne darüber zu reden. „Was sagen Sie zu der „Reigen“¬
Affäre?“ ist ein viel wichtigeres Thema. Hei, wie da die
Gemüter in Wallung geraten! Merkwürdige Auffassungen brechen
sich Bahn. Die mit Dr. Glanz harmonieren, sind weniger
christlichsozial als gegen die Sozialdemokraten, was durchaus nicht
dasselbe ist; Details der Aufführung werden erzählt, eine lebhafte
Diskussion über das, was —, auf der Bühne — noch erlaubt
ist und was nicht mehr, fesselt alle Beteiligten, bis eine Dame
in schöner Ahnungslosigkeit erklärt: „Ich verstehe gar nicht, wir
man wegen der sechs oder sieben Szenen ein solches Aufsehen
machen kann.“ „Es sind zehn Dialoge“ flüstert belehrend die
Dame, deren sittliche Entrüstung wahrscheinlich auf ganz genaue
Kenninis der Aufführung beruht.
Die Hausfrau fühlt die Verpflichtung, die Sttuation zu
retten. „Waren Sie schon bei der Flamme?“ Neuerlicher Aus¬
bruch moralischer Entrüstung. Natürlich waren alle dabei, soger
die Ratve von den „sechs bis sieben Reigenisenen“.
allen die Meinungen laut auf einander. Eine hat mehr, eine
eniger Verständnis für das darin gezeigte Milieu, aber das
nteresse daran ist allen gemeinsam. „Nein, es ist wirklich zu
g. was man jetzt auf dem Theater zu sehen bekommt“, jammert
e Hausfrau. Hans Müller hat nämlich vor einer halben
tunde soin Erscheinfen heim Jour abgesagt und das viel um¬
Littene Kind seiner Muse muß nun den ganzen Groll der tief
gektänkten Hausfrau auf sich nehmen. „Nut auf dem Theater?“
lächelt maliziös eine schöne Frau, deren Brillantanhänger in
Gegenden verschwindet, die früher einme#wngstens Tüll
oder Schleierstoff verhüllte. „Waren Ste auf
der
Opernredoute?“
„Das war wirklich ein Skandal.“
mischt sich da der Waler ein, der die Bridgepattie der Herren
verschmäht und die Gesellschaft der medisterenden Damen vorzieht.
„Wenn die Damen wüßten, wieviel interessanter sie sind, wenn
sie ihre Reize nur ahnen lassen, statt sie gar so neidlos zu zeigen,
würden sie etwas weuiger freigebig damit sein:“. „Sehen Sie,
dieses Gefühl habe ich auch“, erklärt die Dame, deren Taille
schon am späten Nachmittag aus nicht viel mehr als zwei
schmalen Achselträgern besteht. „Es ist so traurig, daß die
meisten Frauen unserer Zeit ganz das Gefühl dafür verloren
haben, wie weit man eigentlich gehen darf.“ Ihr Blick fällt bei
diesen Worten gerade in den riesigen Spiegel gegenüber und
ftet stolz an den beiden Trägern, die ihren Anspeüchen voll¬
Andig zu genügen scheinen.
Die Herren scheinen tatsächlich durch nichts mehr zu ge¬
winnen zu sein. Weder das Gespräch über „Reigen“ und
„Flumme“, noch das über die Toiletien der Opernredouse ver¬
mochte sie auf einen Verzicht der Bridgepartie zu beweg.n, ja
nicht einmal die Damen selbst fesselen sie. Längst haben sie, ge¬
führt vom Hausherrn, an den Spieltischen Platz genommen und
obliegen eiftig ihrer liebsten Passion. Bei den Pausen, die durch
Mischen und Teilen entstehen, kommt es höchstens zu Bruchstücken
eines Gesprächs. „Vermögensabgabe? Mit meinen fünfund¬
sechzig Prozent wird ihnen geholfen sein!“ — „Wenigsten
werd' ich meine Kriegsanleihe los.“ Schüchtern trit da die
naive kleine Frau ins Spielzimmer. Sie hat Glück.
denn der Herr, den sie sprechen will, paßt gerade