II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 366

wieder entlassen. Sie werben sich wegen dieser Vorfalle zu ver¬
antworten haben.
Im Zuschauerraum.
Was Augenzeugen erzühlen.
des „Reigen
Von Personen, die der Abendvorstellung
bis zu ihrer gewaltsamen Einstellung beigewohnt hatten, wurde
uns folgende Schilderung gegeben:
Schon knapp nach Beginn der Vorstellung verbreitete sich
im Publikum eine Krisenstimmung. Es waren von unbekannten
Tätern Stinkbomben geworfen worden, die die Luft ver¬
pesteten, und zeitweilig wurden Zwischenrufe laut, die durch
energische Protestrufe: „Ruhe!“ niedergeschrien wurden.
Während des vierten Bildes kam es zu den ersten aufregenden
Szenen. Von der Galerie ertönten Rufe: „Skandal
Schweinerei!“ usw., es kam zu lauten Gegenkundgebungen und
ein Herr aus einer Loge rief: „Wem's nicht paßt, der soll
hinausgeh'n!“ Dann trat Ruhe ein und das Bild konnte ohne
Störung zu Ende gespielt werden. Der Geruch, der sich im
Theater verbreitet hatte, nahm aber immer mehr an Pene¬
tranz zu.
Während des fünften Bildes setzte der eigentliche Krawall
ein. Die Schauspieler hatten kaum die erston Sätze gesprochen
als sich eine nervöse Unruhe des Publikums bemächtigte. Der
Theatersekretär Herr Marfeld sah sich deshalb veranlaßt,
vom Balkon des Theaters aus beruhigende Worte an das
Publikum zu richten; er forderte die Zuschauer auf, sitzen zu
bleiben und nichts zu befürchten, da sie sich in vollster Sicher¬
heit befänden. Diese Worte wirkten wie ein Signal zum
Angriff. Im Theater ertönten Pfiffe, und wüstes Geschrei
wurde laut Alles stürmte von den Sitzen, um zu den Girderoben
zu gelangen, und es kam zwischen den Bankreihen zu heftigen
Schlägereien.
In der Zwischenzeit war eine große Anzahl junger
Burschen von der Straße aus mit Gejohle in das Theater ein¬
gedrungen. Sie eilten in die Logen, die dem Foyer am nächsten
liegen, und begannen aus denselben Sessel auf das Parkett zu
werfen. Die eiserne Kurtine wurde sofort aus der Ver¬
senkung heraufgezogen.
Im Zuschauerraum kam es nun zu schweren Aus¬
schreitungen. Die Demonstranten gingen gegen dal
Publikum los, schlugen mit Stöcken und Fäusten drein und
zerrten Männer und Frauen aus dem Theater. Viele Be¬
sucher wurden blutiggeschlagen, manchen das
Gewand vom Leibe gerissen. Eine Dame wurde mit
einem Lederriemen mißhandelt, andre Damen geohrfeigt und
beschimpft. Während dieser Ausschreitungen, denen gegenüber
sich die Wache als zu schwach erwies, warfen viele Demon¬
stranten mit Eiern um sich und besudelten den eisernen Vor¬
hang mit einer teerartigen Flüssigkeit.
Die Personen, die sich zur Garderobe gebrängt hatten, um
ihre Kleidungsstücke zu beheben, wurden mit Stockschlägen
weggetrieben und mußten ohne Ueberkleider flüchten
Erst später, als Ruhe eingetreten war, konnten die Ueberkleider
ausgelöst werden. Wie man hört, ist aus der Garderobe nichts
abhanden gekommen, alle Besucher erhielten ihre Ueberkleider
zurück.
Auf der Büdne.
Herr Hans Wengraf, der im dritten Bilde „Stuben¬
mädchen und junger Herr“ mit Fräulein Hochwald auf der
Szene ist, vernahm schon zu diesem Zeitpunkt leises Gemurmel
aus dem Zuschauerraum. Das Wort „Schweinerei!“ war bis
auf die Bühne hörbar. Im Publikum war eine merkliche
Unruhe entstanden, doch legte sich dieselbe wieder, offenbar, weil
die Demonstranten still wurden, beziehungsweise noch nicht
den verabredeten starken Zuzug erhalten hatten. Das nächste
Bild „Junger Herr und junge Frau“ in dem mit Herrn
Wengraf Frau Carlsen beschäftigt ist, konnte beginnen. Das
Publikum ging wieder mit, lachte sogar, wenn auf der Bühne
ein Scherzwort fiel. Erst als die Verdunklung bei offenem
Vorhang eintrat, wurde der Ruf „Schweinerei!“ lauter ver¬
nommen, man roch auch schon bis auf die Bühne die Stink
bomben. Ein Logengast rief mit Hinweis auf die Demonstranten:
„Hinaus mit ihnen!“ Andre antworteten. Die Unruhe nahm
zu. und Frau Carlsen und Herr Wengraf mußten das Stimmen¬
gewirre übersprechen.

Von einem hier stehenden Klavier troff das Wasser herunter.
Verbot der Nachtvorstellung.
Die Direktion der Kammerspiele plante trotz der Vorgänge
und trotz des angerichteten Schadens, den sie im großen und
ganzen beheben zu können glaubt, die Nachtvorstellung vor sich
gehen zu lassen, welche ebenso wie die Abendvorstellung aus¬
verkauft war. Man wollte den Beginn der Vorstellung etwas
hinausschieben, um in dieser Zeit die notdürftigsten Auf¬
räumungsarbeiten durchführen zu können. Ein Hindernis
schien nicht vorzuliegen, nachdem die Demonstranten mittler¬
weile abgezogen waren. Ueber Anraten der Feuerwehr ist aber
doch die gestrige Nachtvorstellung schließlich aus Gründen der
Sicherheit verboten worden. Branddirektor Schifter
at nämlich der Behörde gegenüber seiner Ansicht Ausdruck
verliehen, daß mit Rücksicht auf den Bau des Theaters und
die vielen zum Theatersaale führenden Treppen bei der
Wiederholung einer Panik größeres Unheil
geschehen könnte und daß eine Gewähr für die Sicherheit der
Theaterbesucher nicht übernommen werden könne. Aus diesen
Gründen wur de seitens der Polizeibehörde der Direktion der
Kammerspiele nahegelegt, die gestrige Nachtvorstellung zu
unterlassen
Die Frage der Fortsetzung der „Reigen“¬
Vorstellungen.
Bezüglich der weiteren Aufführungen wird seitens der
Direktion der Kammerspiele erklärt, daß einer Fort¬
führung der „Reigen"=Vorstellungen nichts im
Wege stehe. Die Theaterleitung erklärt nämlich, daß die
gestrigen Kundgebungen nicht der Ausfluß eines öffentlichen
Aergernisses sind, sondern eine zu agitatorischen Zwecken
organisierte Kundgebung gewesen seien.
Ein behördlicher Beschluß über eine Stellungnahme zu
dieser Angelegenheit wurde bis zum gestrigen Abend nicht
gefaßt; die Behörden werden erst im Laufe des heutigen
Tages Gelegenheit haben, sich mit der Frage zu befassen, ob
aus Gründen der öffentlichen Ruhe und Ordnung oder auch
aus Gründen der Sicherheit der Theaterbesucher die weiteren
Vorführungen des „Reigen“ zu verbieten oder zu gestatten sind.
Ein aus diesen Gründen zu verfügendes Verbot könnte die
Polizeidirektion im eigenen Wirkungskreise erlassen,
ohne sich um die Verschiedenheit der Ansichten über das Zensur¬
verbot zwischen dem Bundesministerium des Innern und dem
Bürgermeister als Landeshauptmann zu befassen.
Artur Schal##ter über die Demonstrationen.
Dr. Alur Schliyrer, der seit den „Reigen“¬
Aufführungen fast täglich im Theater erschienen war, kam auch
gestern und wurde Zeuge der turbulenten Vorgänge; der
Dichter äußerte sich zu einem unsrer Mitarbeiter:
„Ich kain während des fünften Bildes zufällig in das
Theater, um mit Direktor Bernau einige Einzelheiten zu
besprechen. Schon beim Betreten der Bühne rief mir eine
Schauspielerin zu: „Gerade heute kommen Sie?“ Ich fragte
erstannt, ob heute ein so besonderer Tag sei, und in diesem
Augenblicke hörte ich schon von der Bühne her und auch von
der Straße ein wüstes Getöse. Die Zuschauer flüchteten
auf die Bühne und suchten von dort schreckensbleich einen
Ausgang zu erreichen. Inzwischen waren von den Bühnen¬
arbeitern schon die Hydranten in Tätigkeit gesetzt worden, um
die eindringenden Demonstranten von der Bühne zu
verdrängen. Die Garderoben der Scharspielerinnen waren
völlig unter Wasser, ebenso wie die Bühne. Das Publikum
und die Demonstranten hämmerten gegen den
eisernen Vorhang, um auf die Bühne zu gelangen,
dieser hielt aber stand.
Weder den Schauspielern noch mir ist irgend etwas
geschehen, aber ich kann kaum genügend scharfe Worte finden,
um das Vorgehen der Eindringlinge zu geißeln. Meine
Empörung ist wohl um so berechtigter, als die Demonstranten
ohne Rücksicht auf die unten weilenden Personen die
schweren Logenbänke von der Galerie in das
Parterre stürzten; jede einzelne dieser Bänke hätte genügt,
einen Menschen zu erschlagen.“