II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 448

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In Rathaas.
Reumann gestattet die Aufführung, der Minister Glanz verbietet sie.
Die
Polizei schützt das Gesetz.
Lärm und Ohrfeigen im Parlament. — Tumult
im Gemeinderat.
Den öffentlichen Aufführungen des „Reigen“ war,
die Freizügigkeitserlässe des Herrn Sever gegen die
wie gemeldet, eine Probe für die Zensur vorausgegangen.
Flüchtlinge) für das bedrohte Gesetz aufzutteten. Sie
Da sich hiebei kein Grund ergeben hatte, die Vorstellung
schlugen also im Parlament Lärm, die Christlichsoziaten
zu verbieten, hatte Bürgermeister Reumann in
replizierten mit „Jud! Judl Jud!“ Herr Sever er¬
seiner Eigenschaft als Landeshauptmann den „Reigen“
hielt eine Ohrfeige, man trommelte mit Pultdeckeln,
für die Kammerspiele freigegeben. Einer Vorstellung
Fänsten, Aktenstößen. Im Gemeinderat dasselbe Schau¬
wohnte nun eine christlichsoziale Gräfin bei. Sie nahm
spiel. Und am Abend stand die Polizei vor und im
das ihrer Weltanschauung entsprechende Aergernis und
Theater und schützte das Gesetz. Allen ist geholfen. Der
bearbeitete die gesinnungsverwandte Presse so lange. bis
Theaterdirektor hat eine prachtvolle Reklame, die ihn
die „Reichspost“ offen mit Ruhestörungen drohte. Ein
keinen Heller kostet, bis Montag sind alle Karten ver¬
paar junge Mitglieder der Orel=Partei fühlten sich ver¬
griffen, Christlichsoziale und Sozjaldemokraten steyen
anlaßt, die Moral zu retten. Sie hatten, wie sie selbst
vor ihrer Wählerschaft als verfluchte Kerle da. So ist
bei der Polizei angaben, das Stück nicht gesehen, nicht
der Reigen geschlossen.
gelesen. aber da es die Partei so wollte, versuchten sie
im Theater Lärm zu machen, wurden aber verhaftet.
Unsere Ansicht über die Bühnenaufführung des
Jetzt war für die Christlichsozialen der Moment
„Reigen“ haben wir bereits nach der Premiere in den
gegeben, offiziell, parteiamtlich aufzutreten und aus der
Kammerspielen unzweideutig zum Ausdruck gebracht.
Geschichte so viel Kapital zu schlagen als nur möglich.
Schnitzler hat diese Dialogreihe nicht für die Bühne ge¬
Sie haben ja in der letzten Zeit viel Pech gehabt. West¬
schrieben, hat sich durch lange Jahre gegen die In¬
ungarn kriegen sie von Horthy nicht, mit dem Anschluß
szenesetzung des „Reigen“ gewehrt, ja, eine im Jahre
kann man nichts machen, in Paris hat ihre glotreiche
1919 veranstaltete Aufführung im letzten Augenblick
Regierung keinen Erfolg gehabt. Also her mit den
inhibiert. Wir haben mit Bedauern festgestellt, daß der
Juden! Das hat noch immer genützt. Die Regierung
Dichter sich selbst untreu geworden ist, wenn er jetzt
fürchtete sich zuerst, grob aufzutreten, und der Min ister
die Bühnenaufführung kuldet, und halten die von
Glanz schrieb an den Polizeipräsidenten Schober einen
Schnitzler so lange Zeit geäußerte und bewiesene Ueber¬
Brief, er möge doch so gut sein und den „Reigen“ ein¬
zeugung aufrcht, daß die Inszenierung dieser Dialoge
stellen. Herr Schober wollte nicht, denn das Gesetz
unkünstlerisch, ja geschmacklos ist. Auch die Art, wie der
spricht da zu deutlich. Also mußte der Kabinettsrat, da
„Reigen“=Rummel begann, war uns nicht gerade som¬
die „Reichspost“ und die übrigen Blättlein, die das
pathisch. Für eine Sensationsmache mit Tausendkronen¬
„Fensterln“ auf dem flachen Land als gemütstiese
sitzen haben, wir nichts übrig. Auch für das Publikum
Aeußerung rustikalen Wesens lieben und den Operetten¬
nicht, das sich lüstern um die teuren Plätze balgte.
schund als höchste Blüte „weanerischen Hamurs“ ver¬
Deshalb ist aber der christlichsoziale Feldzug gegen
ehren, eine Sitzung halten und den „Reigen" ver¬
den „Reigen“ nicht minder verlogen und lächerlich. Die¬
dammen. Wenn man schon kein Geld hat und der
selben Herren, welche gegen die Verderbung des Wiener
Finanzminister von einem 42=Milliarden=Defizit erzählt,
Kunstgeschmacks durch die Operettenseuche nichts einzu¬
dann will man doch wenigstens die Sittlichkeit retten.
wenden hatten, laufen jetzt gegen eine Aufführung
Es erging das Verbot. Der Oeffentlichkeit, die wahrlich
Sturm, in welcher doch ein wirkliches Kunstwerk ver¬
anderes zu bedenken hat, teilte man durch die „Staats¬
mittelt wird. Und das Manöver, aus der „Reigen“¬
korrespondenz“ folgendes mit:
Affäre ein Politikum zu machen, ist doch zu durch¬
sichtig und schäbig.
„Bereits vor Zulassung der Aufführung des #igen“
durch den Magistrat Wien als politische Landsbeoörde
hat der Polizeipräsident den Bürgermeister von Wien auf
Die gestrige Vorstellung vollzog sich hinter einem
die schweren Bedenken aufmerksam gemacht, die der Auf¬
grandiosen Polizeiaufgebot. Alle Zugänge zum Theater
führung des Stückes entgegenstehen. Der Magistrat er¬
in der Rotenturmstraße waren durch Polizei besetzt, nur
teilte jedoch nach Anhörung des Zenfurbeirates mit Be¬
scheid vom 12. Jänner die Aufführungsbewilligung Die
Kartenbesitzer erhielten Zutritt. Auch im Theaterraum
nun erfolgten Aufführungen des Stückes gaben zu leb¬
befanden sich Detektivs. Das Publikum zeigte zum
haften Erörterungen in der Oeffentlichkeit Anlaß. Hiebei
Unterschied von den Schauspielern starke Nervosität und
sprach sich die weitaus überwiegende Mehrzahl der öffent¬
geriet in Unruhe, so oft ein Programmzettel raschelte.
lichen Stimmen dahin aus, daß die Aufführung nach
ihrem Gesamteindruck eine arge Verletzung der Sittlichkeit
Die Aufführung selbst ging ungestört und unter sta#kem
bedeute. Kundgebungen aus der Bevölkerung und zahl¬
Beifall des Anditoriums, das sich Mut klatschte, vor sich.
reiche Artikel der Presse verschiedener Richtung ließen er¬
kennen, daß diese Vorführung mit dem sittlichen Empfin¬
Die „Reigen“=Affäre im Wiener
den weiter Kreise der Wiener Bevölkerung in scharfem
Gegensatz steht. Der Bundesminister für Inneres und
Landtag.
Unterricht richtete daher an den zunächst zur Beurteilung
Wülte Szenen.
des Falles berufenen Bürgermeister von Wien die Ein¬
ladung, zu der durch die öffentlichen Aufführunger ge¬
Es war vorauszusehen, daß das „Reigen"=Verbot
gebenen Sachlage Stellung zu nehmen. Der Bürger¬
ebenso wie in der Nationalversammlung auch in der gestri¬
meister erklärte jedoch, daß er nicht in der Lage sei. seine
gen Sitzung des Wiener Landtages starken Widerhall finden
erste Entscheidung abznändern.
Aus Rücksichten der
werde. Und in der Tat kam es anläßlich eines von Sozial¬
öffentlichen Sittlichkeit sah sich nun die Bundes¬
regierung veranlaßt, die weiteren Aufführun¬
demokraten gestellten Dringlichkeitsantrages, in welchem der
gen des „Reigen“ zu untersagen. Sie glaubt, sich
Landeshauptmann als Bürgermeister von Wien aufgefordert
hiebei mit der öffentlichen Meinung, abgesehen von einem
wird, die Autonomie und Freiheit Wiens aufs energischeste
kleinen, für das Wiener Volksempfinden wohl nicht ma߬
zu wahren, zu wüsten Tumultszenen.
gebenden Zuhörerkreis, in voller Uebereinstimmung zu
befinden.
Von den Gemeinderäten Speiser und Genossen lag
Nun ergibt sich folgende hübsche Situation: Das
folgender Antrag vor: Dem Vernehmen nach hat der Bun¬
Stück ist auf Grund des Verfassungsgesetzes gestattet,
desminister für Inneres und Unterricht die weitere Auf¬
aber von der Regierung auf Grund einer kaiserlichen
führung des Theaterstückes von Schnitzler „Reigen“ ver¬
Verordnung aus dem Jahre 1850 untersagt. Die Polizei
boten. Nach der Theaterverordnung vom 14. November 1850
sieht auf dem Standvunkt, daß für sie die Verfassung
bedarf jede Bühnenproduktion vor ihrer ersten Darstellung
maßgebender sei als eine verschimmelte Verordnung, und
der Aufführungsbewilligung von seiten des Statthalters.
Präsident Schober erklärte dem Thaterdirektor: „Das
Nach § 5 kann die erteilte Bewilligung aus Beweggründen
Stück ist freigegeben. Ich war dagegen.
der öffentlichen Ordnung jederzeit zurückgenommen werden.
Jetzt schütze ich das Stück!“ Das ist nun die
Zuständig zur Erteilung einer Aufführungsbewilligung und
wundervollste Gelegenheit für die Sozialdemokraten, die
zur Zurücknahme der Bewilligung ist somit der Statthalter.
sonst auf Verfassung und äbnliche Dinge pleisen (siehe
Nach dem neuen Bundesverfassungsgesetz ist an Stelle der