II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 465

11.
Reigen
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Zeiten weder der gesetzgebenden Korperschaft
noch deren Mitgliedern zum Ruhme gereichten.
Heute aber, da die gepeinigte österreichische
Kreatur ob all der Furchtbarkeiten und Be¬
drückungen aufschreit, der auf uns schar
horchenden Welt das Schauspiel bieten, daß
das Für und Gegen ein Schauspiel die größte
Sorge unserer politischen Führer ist, muß
noch als ein ärgerer Skandal bezeichnet
werden als der gestrige Parlamentsskandal
selbst. Ein Funken Takt und die ganzen
gestrigen Szenen hätten nicht vorkommen
dürfen, ein Funken Sinn für das, was
wirklich die Bevölkerung bewegt, und die
Boten des Volkes hätten sich vor dem Volke
geschämt. Partei ist ein Wort lateinischen Ur¬
sprungs. Es kommt von Pars, das Teil be¬
deutet. Gestern ist sinnfällig erwiesen worden,
daß unsere Parteien vom Ganzen und dem
Gemeinsamen nichts wissen.
Zunächst noch ein paar Worte zu Artur
Schnitzlers „Reigen“ dessen Aufführung und
dessen allerdings vorläufig noch nicht in
Wirklichkeit versetztes Verbot Anlaß zu den
gestrigen beschämenden Vorgängen im Par¬
lament gegeben haben. Das Stück, eine
Szenenreihe, behandelt Vorgänge aus dem
Geschlechtsleben. Der gemeinen Deutlichkeit
der Dinge wird hiebei nicht aus dem Wege
gegangen. Schnitzler hat sein Opus ursprüng¬
lich nur für einen engeren Freundeskreis als
sogenanntes Manuskript drucken lassen. Dabei
hätte es sein Bewenden haben sollen. Es kam
aber später in größerer Auflage in den Buch¬
handel, bis man sogar den ungeheuerlichen
Mut aufbrachte, die ungemein fraglich
Szenenreihe auf das Theater zu bringen. Das
Werk hat nie in die Menge gehört, am aller¬
wenigsten auf die Bretter. Theater ist derbe
handfeste Wirklichkeit. Der „Reigen“ dort
aufgeführt, ist nichts mehr als gewöhnlicher,
aber schon sehr gewöhnlicher erotischer Kitzel.
Was immer für künstlerische Absichten dem
Dichter bei Verfassung dieser Szenen vor¬
geschwebt haben mögen, und wenn es ihm
auch nur darum zu tun gewesen wäre, sein
dichterisches Senkblei in menschliche Leiden¬
schaften und Verworrenheiten hinabzulassen,
der Menge, und insbesondere dem Theater,
hatte das Stück auf alle Fälle fernzubleiben
Wir sind keine Augenverdreher, wissen, das
die deutsche Literatur in allen Zeiten ähnlich
Schöpfungen freiester Schwingung aufzu¬
weisen hat. Und es sind nicht die Schlechtesten,
die sich zuweilen, weil ihnen eben nichts
Menschliches fremd war, den gewagtesten
Problemen genahert. Goethe hat sein „Tage
buch“ gedichtet, eine heikle, aber zugleich tiese
Sache. Aber hier, ohne sonst Vergleiche an¬
stellen zu wollen, beginnt gleich der Unter
schied. Goethe hätte niemals darein gewilligt
daß sein Poem der großen Oeffentlichkei
unterbreitet werde. Bis vor wenigen Jahrer
noch haben selbst die großen Goethe=Ausgaben
das „Tagebuch“ nicht enthalten. Andere
die Allgemeinheit nicht bestimmte Dichtungen
Goethes sind jahrzehntelang noch nach de
Dichters Tode unter strengem Verschluß ge
blieben. Den „Reigen“ durfte ein Künstler
wie Schnitzler dichten. Ihn aufführen lassen
niemals. Hier trifft den Dichter schwer
Schuld.
Das mußten wir sagen, und nun zu der
anderen, was auch noch zu sagen ist. Beide
Parteien, weder den Christlichsozialen noch de
Sozialdemokraten, die gestern um das Stü
herum, aber nicht eigentlich des Stücke
wegen sich balgten, war es um da
Wesen zu tun. Es war nicht de
ozialistische
Führer auch zu einer Art
iterarischen Bolschewismus hinneigen. Die
große Masse der sozialistischen Arbeiter dürfte
aber, unserer Meinung nach, andere und ge¬
wichtigere Sorgen haben als sich für die Auf¬
führung des „Reigen“ zu entflammen. De¬
parlamentarische Reigen, der gestern zu
Schnitzlers „Reigen“ aufgeführt wurde, war
und bleibt eine tiefbedauerliche Entgleisung
Zweiundvierzig Milliarden Defizit und in
Parlament rauft man wegen eines Theater¬
tückes. Zweiundvierzig Milliarden Defizit in
einem Sechsmillionenstaatchen und die Volks¬
boten haben nichts Besseres zu tun, als sich
die rostige Parteirüstung anzuschirren und
aufeinander loszuschlagen. Armer Staat,
doppelt armes Gemeinwesen!
amischon Rußlanh mah#