II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 585

11. Reigen
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WIERER -RLLGERRRE ZHINAE
WIEN
Wiener Allg
Montag
68 S#4 61521
wenn man auch in der so scharf ver¬
urteilten, dem „Reigen“ gewidmeten Natio¬
„Reigen.-Epilog.
nalratssitzung die Ueberschreitung parlamen¬

tarischer Sitten bedauern muß: Nun
Wien, 14. Februgr.,
früher schlug man sich wegen einer Bezirks¬
Ich spreche hier nur von meinem
hauptmannschaft in Trautenau oder wegen
eigensten Standpunkt aus. In Frankreich ist
eines Postschildes in Leitomischl die Tinten¬
es journalistische Gepflogenheit, daß Artikel,
fässer um die Köpfe. Ist es da nicht ein be¬
die aktuelle Tagesfragen besprechen, selbst
grüßenswerter Fortschritt, wenn nun ein¬
von Blättern ausgenommen werden, welche
mal hinter all den Verkleidungen des politi¬
einer dem Verfasser entgegengesetzten politi¬
chen Streites doch der wirkliche Kampf sicht¬
schen Richtung angehören, sobald dieser
bar wird, der um absolute Werte der Welt¬
seinen Namen voll unterzeichnet. So nehme
anschauungen entbrennt
auch ich für meine Ausführungen hier nur
Die moralisch=sittliche Frage, ob der
Gastrecht in Anspruch.
„Reigen“ aufzuführen war oder nicht, inter¬
Die christlichsoziale Regierungspartei
essiert mich gar nicht. Noch viel weniger die
hat durch das Verbot des „Reigen“, das von
politische Frage der Kompetenzen. Was
einer hiezu nicht berechtigten Regierungs¬
nich als Frau, die wahrscheinlich die Dinge
stelle ausging, und durch die Gefolgschaft,
naiver, einfacher und daher intuitiver faßt,
eine
die sie klerikalen Weisungen leistete,
allein hier berührt, ist dieses Erleben des
geistig=literarische Angelegenheit zu einem
Jesuitismus einerseits, des Mangels an
Politikum gemacht. Sie hat dieser Ange¬
synthetischem Denken oder an intuitiver Auf¬
legenheit damit selbst die Nationalversamm¬
assung andererseits, die dem größten Teil
lung als Forum angewiesen. Und hat
der öffentlichen Meinung ein so charaktersti¬
ferner, indem sie ihrem Bundesminister ge
sches Gepräge der Charakterlosigkeit geben.
stattete, die Oppositionspartei durch Worte
Sie alle fühlen nicht oder wollen nicht fühlen,
der Diffamierung herauszufordern, jene
daß es sich im letzten gar nicht um den
Skandalszenen proyoziert, die nun vielfach
„Reigen“ handelt. Sondern um das Heran¬
als Diskreditierung unseres Parlaments
schleichen jener dunklen Gefahr, die niemals
dem Ausland gegenüber empfunden werden.
ganz zu bannen ist. Dort, wo der Menschen
Es mag sicherlich den Regierungs¬
elendeste Erfindung, der „Staat“, funktio¬
kreisen und auch allen sogenannten liberalen
niert. Der Staat, der dem Lügenbegrif
Leisetretern, welche der kompakten Majorität
er „Staatsraison“ sein Leben dankt. Der
Wortführer sind, unangenehm geworden
Staat, der für die „Ordnung“, als welche
sein, daß eine Affäre, die man gehofft und
er seine Machtorgie ansieht, das Individuum
erwartet hatte, aktenmäßig eskamotieren zu
umzubringen sucht. Im Namen der Staats¬
können, dennoch eine ihrer Bedeutung einzig
raison wagen die Regierenden stets jen
entsprechende öffentliche Behandlung fand.
frechen Eingriffe, die vor dem Recht des
Und rasch genug wurde das Losungswort,
geistigen Lebens, Erlebens und Auslebens
in
welches zuerst ausgegeben worden war
nicht Halt machen. Daß aber solche be¬
sein Gegenteil gekehrt. Hieß es zuerst: Das
lissene Einmengung, solche Gängelung und
Verbot des „Reigen“ untersteht direkt dem
heuchlerische Bevormundung der Staats¬
Bundesminister, und gab man diesem Ver
bürger immer nur einen zagen Anfang dar¬
bot dadurch politische Farbe, so gilt jetzt,
stellen; daß allmählich aus solcher Moral¬
nach dem erlittenen Fiasko, die Formel:
riecherei eine allumfassende Unterjochung
Kulissenangelegenheiten, Theaterskandale
jeder Wahrheit sich kristallisiert, dies hat die
habe man nicht angesichts „Europas“ in der
Weltgeschichte in ihr ehernes Erinnern ein
Versammlung des Nationalrates zu einer
gezeichnet.
Staatsangelegenheit aufgeplustert.
Darin liegt die Bedeutung der Aus¬
Nun, ich meine: Daß durch die Auf¬
einandersetzung, welche in der Nationalver¬
führung des „Reigen“ und dem daraus ent¬
ammlung so dramatische Formen annahm.
standenen Politikum der Nationglrat zun
Daß man wieder einmal das Heranschleichen
Schauplatz einer Auseinandersetzung über
solcher hypokritischen taktischen Geistes¬
wichtige Klarstellungen wurde, ist der Würde
fürsorge wahrnehmen konnte. Und darin
dieses Parlaments absolut nicht abträglich,
lag die Aufgabe der öffentlichen Meinung
Müssen denn immer nur materielle oder
die symptomatische Wichtigkeit eines solchen
bureaukratische oder politische Dinge die
Gesinnungskampfes aufzuzeigen, anstatt, wie
Tagesordnung beschäftigen? Gibt es nicht
is geschah, diesen Kampf zu einer „Tinterl¬
auch Probleme tieferer oder höherer Prä¬
affäre“ eines Theaterskandals herabzusetzen.
gung, die in keine der oberwähnten Rubriken
Berta Zuckerkandl.
einzuzeichnen sind? Und die dennoch staats¬

aufbauende oder staatszerstörende Kräfte in
sich tragen? Ist denn wirklich nur einer
Was will Hayern:
Kompetenzfrage wegen dieser Streit der
Parteien entstanden? Standen sich nicht
plötzlich, bis an die Zähne bewaffnet, zwei
Welten gegenüher? Deren vieltausendjähri¬
ges Ringen um Geistesfreiheit und um
Geistesunterdrückung Ewigkeitszug trägt?
Gibt es den neben und über der rationellen
Vorsorge, wenn auch „die Ziffern des De¬
fizits wie Sturmglocken dröhnen“ nicht auch