II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 586

ge den Resierunge¬
kreisen und auch allen sogenannten liberalen
Leisetretern, welche der kompakten Majorität
Wortführer sind, unangenehm geworden
sein, daß eine Affäre, die man gehofft und
erwartet hatte, aktenmäßig eskamotieren zu
können, dennoch eine ihrer Bedeutung einzig
entsprechende öffentliche Behandlung fand.
Und rasch genug wurde das Losungswort,
wvelches zuerst ausgegeben worden war — in
sein Gegenteil gekehrt. Hieß es zuerst: Das
Verbot des „Reigen“ untersteht direkt dem
Bundesminister, und gab man diesem Ver¬
bot dadurch politische Farbe, so gilt jetzt,
nach dem erlittenen Fiasko, die Formel:
Kulissenangelegenheiten,
Theaterskandale
habe man nicht angesichts „Europas“ in der
Versammlung des Nationalrates zu einer
Staatsangelegenheit aufgeplustert.
Nun, ich meine: Daß durch die Auf¬
ührung des „Reigen“ und dem daraus ent¬
standenen Politikum der Natonglrat zum
Schauplatz einer Auseinandersetzung über
wichtige Klarstellungen wurde, ist der Würde
dieses Parlaments absolut nicht abträglich
Müssen denn immer nur materielle oder
bureaukratische oder politische Dinge die
Tagesordnung beschäftigen? Gibt es nicht
auch Probleme tieferer oder höherer Prä¬
gung, die in keine der oberwähnten Rubriken
einzuzeichnen sind? Und die dennoch staats¬
aufbauende oder staatszerstörende Kräfte in
sich tragen? Ist denn wirklich nur einer
Kompetenzfrage wegen dieser Streit der
Parteien entstanden? Standen sich nicht
plötzlich, bis an die Zähne bewaffnet, zwei
Welten gegenüher? Deren vieltausendjähri¬
ges Ringen um Geistesfreiheit und um
Geistesunterdrückung Ewigkeitszug trägt?
Gibt es den neben und über der rationellen
Vorsorge, wenn auch „die Ziffern des De¬
izits wie Sturmglocken dröhnen“, nicht auch
immaterielle Fragen, um deren Entscheidung
zu kämpfen jeder Zeit, jeder Volksvertretung
zur Ehre gereichte? Haben nicht die
„Liberalen“, die heute die „Reigen“=Affäre
als Quantité méprisable behandelt sehen
wollen, im österreichischen Parlament,
in der österreichischen Presse den jesuiti¬
schen Wühlereien, dem Tartüffismus,
welcher eine „Pfarrer von Kirchfeld“=Affäre
entfesselte — haben sie nicht damals der
schwarzen Opposition ein Autodafé errichtet,
dessen Lichtschein heute noch wie Morgen¬
röte schimmert? Ist denn das Gefühl ganz
dafür verloren gegangen, daß es sich in
Wahrheit bei diesem ganzen „Reigen“=
Rummel weder um Theaterfragen, noch um
Sittlichkeitsbedenken, noch um Machtkompe¬
tenzen, zu handeln hat, wenn ein Eingriff
in die Rechte künstlerischer Unabhängigkeit
und geistiger Freiheit überhaupt erfolgt?
Weil es hier gegen Unduldsamkeit gehen
muß, gegen Borniertheit und noch viel ge¬
fährlichere Attentate auf Seelenversklavung,
die immer wieder von gewisser Seite versucht
werden. Und ist es nicht eine seltsame
Anomalie oder Verlogenheit des Emp¬
findens — sich vor dem Auslande, vor Wohl¬
tätern und Spendern der uns helfenden
Nationen zu schämen, weil ihnen die
österreichische Volksvertretung angeblich ein
Schauspiel äußersten Niederganges bietet,
welches darin bestehen soll, daß „Parlamen¬
tarier“ sich des „Reigens“ wegen in den
Haaren liegen? Sollte man sich nicht eher
schämen, dieser Außenwelt eine derartig un¬
geistige Gesinnung zuzutrauen? War denn
überhaupt Europa an ein gar so hochstehen¬
des Anstandsniveau der einstigen österreichi¬
schen Parlamentssitzungen gewöhnts Und
znt Wort, 105 der Menschen.
lendeste Erfindung, der „Staat“, funktio¬
niert. Der Staat, der dem Lügenbegriff
der „Staatsraison“ sein Leben dankt. Der
Staat, der für die „Ordnung“, als welche
er seine Machtorgie ansieht, das Individuum
umzubringen sucht. Im Namen der Staats¬
raison wagen die Regierenden stets jene
rechen Eingriffe, die vor dem Recht des
geistigen Lebens, Erlebens und Auslebens
nicht Halt machen. Daß aber solche be¬
lissene Einmengung, solche Gängelung und
euchlerische Bevormundung der Staats¬
ürger immer nur einen zagen Anfang dar¬
tellen; daß allmählich aus solcher Moral¬
riecherei eine allumfassende Unterjochung
eder Wahrheit sich kristallisiert, dies hat die
Weltgeschichte in ihr ehernes Erinnern ein¬
gezeichnet.
Darin liegt die Bedeutung der Aus¬
einandersetzung, welche in der Nationalver¬
sammlung so dramatische Formen annahm.
Daß man wieder einmal das Heranschleichen
solcher hypokritischen taktischen Geistes¬
ürsorge wahrnehmen konnte. Und darin
lag die Aufgabe der öffentlichen Meinung:
die sympt matische Wichtigkelt eines solchen
Gesinnungskampfes aufzuzeigen, anstatt, wie
as geschah, diesen Kampf zu einer „Tinterl¬
affäre“ eines Theaterskandals herabzusetzen.
Berta Zuckerkandl.
S
Was will Bayern