II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 618

11. Reigen
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NEUE FRFE PRAS

Wiener Theaterleben nicht von den allerbedenklichsten Folgen
begleitet sein wird und ob es nicht weit angezeigter gewesen
wäre, statt den Dingen ihren freien Lauf zu lassen, den Kon¬
flikt zwischen den verschiedenen Instanzen auszutragen, bevor
der „Reigen“ im Exzeßwege vom Spielplan abgesetzt wurde.
Polizeiliches Verbot der weiteren Auf¬
führungen des „Reigen“.
Mit Rücksicht auf die gestrigen Vorfälle sind die
weiteren Aufführungen des „Reigen“
untersagt worden. Die Verfügung wurde vom
Polizeipräsidium getrossen, und zwar im
eigenen Wirkungskreis.
Die Polizei ist nach ihrem Organisationsstatut zur
Aufrechterhaltung der Ordnung, Ruhe und Sicherheit
verpflichtet und hat alle ihr für diesen Zweck geeignet
erscheinenden Vorkehrungen zu treffen. Da Wiever¬
holungen der Ausschreitungen zu befürchten sind und
nach fachmännischer Ansicht die Bauverhältnisse des
Theaters eine Panik äußerst gefährlich erscheinen lassen,
wurde das Verbot ausgesprochen.
Direktor Bernau ist heute vormittag im Polizei¬
präsidium etschienen.
Zustellung des Verbotes an die Theaterdirektion.
Heute um 22 Uhr mittags erhielt Direltor Bernau
das Dekrét der Polizeidirektion, das vom heutigen Tage
datiett fist, und die weleren Aufführungen des
Schnitzlerschen: Bühnenwerkes „Der Reigen“
verbietet.
Das Dekret hat folgenden Wortlaut:
„An Se. Wohlgeboren Herrn Alfred Bernau,
Direktor der Kammerspiele.
i des „Reigen“,
Die in einem Großteil der Wiener Bevölkerung durch
zeibehörde.
die Aufführungen des Bühnenwerkes „Reigen“ von Artur
Wien, 17. Februar.
Schnitzler hervorgerusene Mißstimmung hat in der gesitigen
gestrigen Sturmszenen
Vorstellung des Stückes einen derartigen elementaren
hlen Gewalttätigkeiten,
Ausdruck gefunden, daß das Theater der Schauplatz wüster
ädtischen Theaters in
Tumultszenen wurde und die Fortsetzung der Vorstellung
tube eines Dorfwirts¬
nicht mehr möglich war. Mit Rücksicht daluuf, daß der¬
kenzen gezogen und die
arlige Vorgänge und Szenen, durch welche die persön¬
„Reigen“ untersagt.
liche Sicherheit des Publikums sowie
stellern war gefährdet,
auch der Darsteller in hohem Maße ge¬
denken und über Ver¬
ährdet wird, im Falle der Wiederholung der Vor¬
petenzkonflikt zwischen
stellung dieses Bühnenwerkes in verstärktem Maße zu be¬
ann kurzerhand hin¬
fürchten sind, sieht sich die Polizeidirektion veranlaßt, im
Sinne des § 6, Absatz 3, der Veroconung des Ministe¬
en“=Affäre sichert die
riums des Innern vom 25. November 1850, R. G. Bl.
davor, Augenzeugen
Nr. 454, die fernere Aufführung der Einakter¬
zuschauen zu müssen,
zenen „Reigen“ von Artur Schnitzler aus Gründen
Frauen, mit angst¬
er öffentlichen Ruhe und Ordnung ein¬
r durch die Straßen
zustellen.
Rohlingen, die ihnen
Gegen diese Entscheidung steht Euer Wohlgeboren der
Sittlichkeit den Kopf
binnen 14 Tagen von dem der Zustellung dieses Dekrets
ite, die gestern nach
nachfolgenden Tage an gerechnet, bei der Polizeidirektion
der Generalstabs¬
einzubringende, an den Bürgermeister als Landeshaupt¬
hre
gemacht hätte
mann für Wien gerichtete Rekurs offen, dem jedoch im
t Gesinnungsgenossen,
Hinblick auf die Gejährdung öffentlicher Interessen eine
de
Festung erlangt
aufschiebende Wirkung nicht zukommt.“
bann in einem Angriff
Das Dekret ist vom Polizeipräsidenten Schober
die Polizeimannschaft
gezeichnet.
rnehmen angespornt
Mitteilungen Direktor Bernaus.
Hetze gegen den
abstoßend, daß gegen
Auf die Frage unseres Mitarbeiters erklärte
ialoge schwerwiegende
Direktor Bernau, noch keine endgültigen Beschlüsse
lassenandrang in die
über einen eventuellen Einspruch gegen das Verbot des
chen oder literarischen
„Reigen“ gefaßt zu haben, er denke jedoch daran, nach
17. Februar 1921
Nr. 20285
Zuschauerraum war wohl schon zu Beginn der Vorstellung
zu
bemerken, doch erfolgte bis zur vierten Szene keine Störung der
Vorstellung. Plötzlich erhoben sich einzelne Theaterbesucher von
ihren Plätzen — Stinkbomben verbreiteten eine unerträgliche
Atmosphäre. Gleichzeitig drang von der Straße herein der
Lärm von Demonstcanten. Jetzt wußte man, wieviel es
geschlagen habe. Nichtsoestoweniger nahm die Vorstellung ihren
Fortgang. Das Bild konnte noch zu Ende gespielt werden.
Kaum hatte jedoch die Darstellung der fünften Szene
begonnen, als das Gejohle von der Straße her immer durch¬
dringender wurde und im nächsten Augenblick Leute von außen
her in den Zuschauerraum und auch auf die Bühne eindrangen.
Siebzehn= bis Zwanzigjährige und zum Teil noch Jüngere
chwangen mitten
im Zuschauerraum Latten und
Knüppel, beschimpften und bedrohten die Theaterbesucher
und drängten sie unter Püsfen hinaus. Es entstand eine Panik
und, da einzelne Zuschauer sich zur Wehr zu setzen versuchten,
wäre es zu Zusammenstößen gekommen, wenn nicht die
Hydranten geöffnet und das Haus unter Wasser gesetzt worden
wäre. Jetzt leerte sich das Parkett, das bald überschwemmt war,
ascher, und ein um so beängstigenderes Gedränge entstand in
er Garderobe und im Vestibül. Es gelang den wenigsten, in
der allgemeinen Aufregung zu ihren Oberkleidern zu gelangen.
Herren ohne Winterrock und Damen in leichter Abendtoilette
flüchteten auf die Straße und in die Nachbarhäuser.
Ein anderer Besucher schilderte die Vorfälle folgender¬
maßen: Unter den Besuchern der gestrigen Vorstellung sielen
junge Burschen, die besonders auf den billigeren Sitzen
saßen, auf. Diese bereiteten die Demonstrationen vor. In
der vierten Szene kam es zu den ersten wesentlichen Störun¬
gen. Einzelne Besucher riesen: „S.andal! Schweinerei!“ Ein
Logenbesucher wies die Störer laut zurecht und rief ins
Publikum:
„Wem es nicht paßt, der soll
hinausgehen!" Nach dem vierten Bilde bemächtigte sich
des Publikums große Aufregung. Der Geruch der Stiak¬
bomben war, trotzdem man in den Zwischenpausen so gut es
ging, gelüstet hatte, immer intensiver geworden. Ein Stink¬
bombenwerfer wurde arretiert und Polizeikömmissär Doktor
Müller naym sein Nationale auf.
Nach kurzer Pause wurde das Spiel wieder ausgenommen.
Im Zuschauerraum wurde es aber immer unruhiger. Plötz¬
lich sah man, wie in die Logen, ins Parkett und auf den
Balkon junge Leute mit Hüten und Kappen auf dem Kopfe
eindrangen und schrien, daß das Theater geräumt werden
müsse. Der Zuschauerraum war nahezu ganz voll, da
wenige Minuten vorher der Direktionssekretär der Kammer¬
spiele Marfeld vom Balkon aus zur Ruhe ermahnt hatte
und auf die Sicherheit hingewiesen hatte, in der sich die Be¬
ucher befänden. Dann war es licht geworden.
Als die Demonstranten einge ungen waren, fiel der
Vorhang und nach wenigen Minuten sah man auch die
eiserne Courtine hinaufziehen. Die Burschen, die in die Logen
eingedrungen waren, warfen nun die Stühle auf das im
Parkett befindliche Publikum hinunter. Im Parterre und aus
dem Balkon kam es zu Mißhandlungen. So soll eine Frau
gewürgt worden sein. Die Demonstranten warfen auch Teer
gegen den eisernen Vorhang, so daß er von oben bis unten
beschmutzt wurde.
Die Demonstranten stürmten auch in den Bühnenraum ein,
n dem sich zufällig Artur Schnitzler, der aber von ihnen
unerkannk blieb, befand. Mehrere Demonstranten drangen
auch in die Damengarderobe, als Bühnenarbeiter auf den
Einfall kamen, die Hydranten zu öffnen. In der Damengarde¬
robe stand zentimeterhoch das Wasser.