II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 669

11. Reigen
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Cheater, IDlusik und Kunst
Reigen,
Kleines Schaufp
elhaus.
Das Kleine Schauspielhaus gehört der Hochschulc
für Musik. Die Hochschule für Musik untersteht dem
Kultusministerium. An der Spitze des Kultusmini¬
steriums steht der bekannte Freidenker Konrad
Haenisch. Ueber dem bekannten Freidenker Konrad
Haenisch stehen die Februarwahlen. Und die Fe¬
bruarwahlen werden mit seinem Ministerium Schluß
machen? Keineswegs. Schon fand Herr Haenisch
den Beifall eines deutschnationalen Abgeordneten, der
von diesem Beifall Unannehmlichkeiten hatte. Herr
Haenisch nimmt diesen Unannehmlichkeiten den
Grund, indem er die Sittlichkeit schützt und Schnitzlers
„Reigen“ verbietet.
Oder sollte Herr Haenisch nur der Angeführte
sein, und es sich — im Hinblick auf die kommenden
Zeiten — um einen Vorstoß der Geheimräte handeln?
Sollte einem sozialdemokratischen Minister im letzten
Augenblick doch noch die Scham überkommen, sein
Minsterium zu etwas hergegeben zu haben, was kein
kaiserliches Ministerium jemals gewagt hatte? Näm¬
lich die Direktoren eines Theaters mit — sechs Wochen
Haft zu bedrohen, wenn sie eine Aufführung gegen
die einstweilige Verfügung unternehmen sollten? Im
Kleinen Schauspielhaus durfen — laut Mietsvertrag
keine Stucke gegeben werden, die in politischer, reli¬
niöser und sittlicher Hinsicht Anstoß erregen.
Ist
Erotik unsittlich? Dann müßte das Kultusmini¬
sterium sofort die Hochschule für Musik schließen.
Denn Musik ist die erotischste aller Künste.
„Reigen“ ist eine der reizendsten Dichtungen
Schnitzlers, weil seine Dialoge aus diesen erotischen
Nervengefühl geboren sind, das nur noch um einen
Grad sublimiert zu werden brauchte um Klang, um
Ton zu werden.
„Reigen“ ist auch eine der rein¬
ichsten Dichtungen Schnitzlers, weil seine sinnlichen
Schwebungen, seine erotischen Frivolitäten und
Melancholien nicht feuilletonistisch umschmust, nicht
mit Tiefsinn draviert, nicht unter Anspielungen ver¬
steckt werden, weil sie sich darbieten als das was sie
sind: graziöse Liebesspiele ohne geistige Verfälschung.
Die Nachdenklichkeit ist das erotische Erlebnis selbst.
Seine Ausstrahlungen, seine Schwingungen, seine
Spannungen, seine Ermattungen.
„Reigen“ ist Wien, ist der betäubende, lockende,
verführerische Schimmer dieser herrlichen, fauligen,
inkenden, versunkenen Stadt. „Anatol“ ist heute
kaum noch zu ertragen, weil Schnitzler hier eine
geistige Distanz zu den Abenteuerne# Chärmeurs
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vorspielt, die er nicht hat. Daß Schnitzler
im „Anatol“ charmiert, verniedlicht, kokettiert, ironi¬
siert, tändelt, und darauf hinweist, daß er tändelt,
nacht diese Einakterreihe zu einem Abbilde auch
enes „geistigen“ Wiens dessen verlogene Süßlich¬
eit aufreizt. „Reigen“ aber ist das Spiel, die Leich¬
tigkeit selbst. Wenn mit der Dirne über den Sol¬
daten und das Stubenmädchen und den jungen Herrn
und die junge Frau und den Ehemann und das
süße Mädel und den Dichter und die Schauspielerin
und den Grafen alle verknüpft sind so ist dieser
Reigen von einer schwebenden Freiheit, die künst¬
lerisch entzückt und deshalb menschlich erheitert.
Viele Dramen von Schnitzler sind veraltet,
weil sie Probleme stellten und die Probleme
entweder zu leicht waren oder von der Zeit zer¬
fressen wurden. „Reigen“ ist unproblematisch und
wird in der deutschen erotischen Literatur, die arm
ist, bleiben. Es ist sicher, daß ein neuer Dichter ein
Stück, das allein den Geschlechtsakt umspielt, heute
nicht schreiben würde. Ebenso sicher aber ist, daß,
wenn er es schriebe, er es plumper schreiben würde.
Gertrud Eysoldt hatte recht, als sie sich vor
der Vorstellung hinter die Dichtung und die Dar¬
stellung stellte. Daß sie in ihrer Rede den Kampf
gegen das Kultusministerium auf sich nahm. (Das,
wie sie sagte, schon längst ein Interesse daran habe,
#.
hre Tirektion an die Luft zu setzen, weil es den
Theatersaal für seine eigenen Zwecke benutzen wolle.)
Sie ließ sich durch die Aufführung bestätigen. Diese
zerfiel in zwei Hälften. In eine langweilige (die die
Sittlichkekt nicht beunruhigte) und eine amusante (die
Die Schau¬

die Sittlichkeit nicht beunruhigte.)
spielkunst pflegt sich in erotischen Stücken auf die
Seite der Männer zu schlagen, weil die Frau die
erotische Phantasie direkter und auf der Buhne auch
ohne Uebersetzung in Kunst auszudrücken vermag.
Hier wurde sie mit Takt und Laune (allerdings nicht
immer mit Talent gegeben). Und wo schauspiele¬
ische Routine, wie bei Poldi Müller, mitsprach,
wurde sie leicht kitschig.
Wenn man bedenkt, mit welch knalliger Auf¬
dringlichkeit in der Residenztheater=Darstellung von
Sudermanns „Raschhoffs“, Olga Limburg eine
Dirne spielte, erscheint die Diskretion des Kleinen
Schauspielhauses vorbildlich. Die Schauspielkunst blieb
bei Kurt Goetz, der ironisch und elegisch den jungen
Herrn spielte, bei Robert Forster=Larrin¬
naga, der den Grafen mit persönlicher Gepflegtheit
gab und bei Karl Etlinger als Dichter. Karl
Etlinger ist ein improvisierender Schauspieler. Er
ist der letzte aus der langen Reihe der wiener Volks¬
komiker: saftig, verspielt und schrullig. Er ist ein
Original, eine Persönlichkeit — aber mit Schnitzler
kam er nicht immer zusammen. Etlinger ist kein
Schauspieler für Dialoge. Er muß mimisch phanta¬
sieren können. Dann leuchtet er auf, dann steht er im
Kontakt mit dem Publikum.
Die Dekorationen waren von Ernst=Stern. In
der Verspieltheit kam er zu seinem Recht.
Herbert Ihexing.