Drahtung des Utd. Tel.
Paris, 24. Dezember.
Die Lage des Ministeriums Leygnes gestoltet
sich immer schwieriger. Die Rede des ehe¬
maligen Kriegsministers Lesevre in der gestri¬
gen Kammersitzung hat gleichfalls dazu beigetra¬
gen. Sie beunruhigte in ihrer pessimistischen
Tendenz die Mehrheit der Kammer heftig. Da
in gutunterrichteten Kreisen die Resultate der
Brüsseler Konferenz pessimistisch
beurteilt werden und sich diese Neuigkeit gestern
in Kammerkreisen verbreitet hat, büßte jedoch die
Rede Lefovres sehr an augenblicklichem Eindruck
ein. Troßdem erwartet man wie wirklicher Un¬
ruhe die Fortsetzung der Debatte über das letzte
Budgetzwölftel, die heute nachmittag stattfinden
Vor allem soll der Ministerpräsi¬
oll.
dent eine Rede halten, die sozusagen die Ant¬
ort auf die Rede Lestores darstellen und die
Kammer über die Entwaffnung Deutsch¬
lands beruhigen soll.
Die Londoner Rede Lloyd Georges hat,
soweit dies möglich ist, die ministerielle Lage des
Kabinetts Leygnes noch mehr geschwächt. Lloyd
George hat sich klar und deutlich für die
Gültigkeit des Vertrages von
Seores ausgesprochen. Die Abendzeitungen,
z. B. der „Temps“ erörtern mit Schärfe diese
Rede Lloyd Georges. Das Journal des Debats,
die Liberté und der Intrausigeant stellen das
durch diese Debatte hervorgerufene Unbehagen
unzweideutig fest.
Noch immer Furcht vor Deutschland.
Paris, 23. Dezember.
In der französischen Kammer sprach heute der
abgegangene Kriegsminister André
Lefsbre über die Gründe seines Rücktritts.
Angesichts der finanziellen Lage dürfe man nicht
zugeben, daß man Deutschland für den
Wiederaufbau der befreiten Gebiete und für die
Zahlung der Pensionen Geld vorschieße. Man
leihe Deutschland Geld zu 5 Prozent, wofür man
selber 6 Prozent zahlen müsse. Frankreich sei
also der Bankier Deutschlands. Er stelle des¬
halb die Frage,
ob Frankreich Sieger sei?
Die Kammer habe den Vertrag, den sie an¬
genommen habe und den er bekämpfe, verurteilt.
Er bedauere, daß der Ministerpräsident gesagt
habe, Frankreich dürfe nicht des Imperialismus
bezichtigt werden. Sei das Imperialis¬
mus, wenn man Elsaß und Lothringen wieder
zurückverlange und das Mandat in Cilicien aus¬
führe? (Abg. Cachin ruft dazwischen: Ja, das ist
Imperialismus!) Wenn Frankreich für seine
Sicherheit sorge, dann dürften sich Italien und
England nicht wundern. England habe auch
860000 Mann und 180 000 Matrofen unter den
Waffen. Frankreich halte
die Wacht am Rhein,
wie die Gallier vor 2000 Jahren. Man dürfe
nicht mit dem Schicksal des „armen Deutschland“
Mitleid hoben. Warum verlange man nicht von
Deutschland die Summe, die es bezahlen könne?
Wenn Deutschland bereit sei, seine Fehler einzu¬
wieder anzusangen, dann könne man sich leicht mit
seiner Entwaffnung zufriedengeben. Frankreich
nüsse genügende militärische Mittel besitzen,
um die
tschechoslowakische, die polnische und die
rumänische Mauer,
die den Germanismus verhindere, sich mit dem
Bolschewismus zu verbinden, aufrechtzuerhalten.
immer bedenken, daß 60 Millionen Deutsche und
80 Millionen Russen sich gegen den Osten nach
Indien und gegen den Westen noch dem Rhein
denden könnten. Im Monat August hätten in
Ostpreußen 70000 Deutsche unter den verschie¬
densten Bezeichnungen gestanden. Sie hätten
bewehr bei Fuß gestanden, um Polen in der
flanke anzugreifen. (!) Im Jahre 1871 würde
Bismarck nicht die Reden gestattet haben, die die
deutschen Minister jüngst im Rheinland gehalten
haben.
Bildung einer neuen Mehrheit.
Drahtung der F. 3.
Genf, 24. Dezember.
Die nächste Folge der Ereignisse in der vor¬
gestrigen Kammersitzung wird voraussichtlich der
ücktritt des Ministeriume Ley¬
gues sein. Da es gegenüber dem Parlament
nicht mehr die nötige Autorität besitzt, kann es in
der gegenwärtigen ernsten Lage die unbestrittene
Leitung der inneren und äußeren Politik des
Landes nicht weiterführen. Da das Budgetfahr
in Frankreich am 31. Dezember endigt, und das
Budget für 1921 noch in der Kommission steckt,
so würde eine Kabinettskrise die recht¬
zeitige Einigung der Kommer und des Senats
über das provisorische Steuerzwölftel für Januar
und Februar fast unmöglich machen; andererseits
haben die Parteien selbst ein Interesse daran, sich
über die Bildung einer neuen Mehrheit
inter sich zu verständigen.
Es ist wahrscheinlich, daß dem Ministerium
eine kurze Schonzeit gewährt wird, #d
daß es bis zu Beginn der ordentlichen P##a¬
mentssession am 11. Januar die Geschäfte fort¬
führen wird, um sich dann im gegebenen Augen¬
blick freiwillig zurückzuzieh en. Unter¬
dessen wird der Präsident der Republik sich nach
einem Neuen Ministerpräsidenten umsehen. Viel¬
eicht wird er an den vielgenannten Persönlich¬
keiten Poincaré, Briand und Barthou
vorübergehen und Viviani berufen, aber die
Schwierigkeiten dürften damit nicht gelöst sein.
Seit vorgestern ist der Kampf zwischen der
Rechten und der Linken in der Kammer eröffnet.
Die Linke= die seit den Wahlen im Jahre 1919
entmutigt war, hat wieder Selbstvertrauen ge¬
wonnen.
Eisenbahnerstreik in Bagern?
Eigene Drahtung.
München, 23. Dezember.
Im Zusammenhang mit der Unruhe in den
Kreisen nord= und mitteldeutscher Eisen¬
bahner steht nach der Meldung hiesiger Blätter
auch in Bayern eine Abstimmung über
den Streik vor der Türe. Die Lokomotiv¬
führer sollen bereits mit weit überwiegender
Mehrheit sich für die „Arbeitseinstellung ausge¬
sprochen haben. Die Abstimmung fand durch
Stimmzettel mit Namensunterschrift statt. Der
Streik soll unter dem Schlagwort einer „Anstre¬
bung des Existenzminimums“ erklärt werden.
Wiener Anschluß-Schritte.
Drahtung der T. U.
Wien, 24. Dezember.
Ein Kabinettsrat wird sich heute mit
den Schritten der Regierung wegen Beseiti¬
gung des Anschlußverbotes an Deutsch¬
land befassen.
darunter der Staatssekretär des Auswärtigen
Amts, Herr von Haniel, der Staatssekretär
des Reichskanzlei, Dr. Albert, und bekannte
Größen der Finanz= und Handelswelt, wie Maz
Warburg, Walter Rathenau und andere,
m ganzen etwa zwölf bis fünfzehn Herren.
Heute vormittag hat Me. Cormick, der sich
über die Verhältnisse in Deutschland unterrichten
will, in seiner Wohnung im Hotel Adlon die Be¬
prechungen mit führenden Männern unserer
Wirtschaft fortgesetzt. Me. Cormick, ein persön¬
licher und politischer Freund des neuen Präsiden¬
ter Harding, tritt in diesen Unterhaltungen
durchaus als Privatmann auf und wird diese
Zurückhaltung insbesondere auch dadurch kund¬
tun, daß er jede öffentliche Aeußerung über Po¬
litik und schäfte vermeiden wird. Den Weih¬
nachtsabend wird Me. Cormick im Kreise der
nmerikanischen Mission verbringen.
Das vervot des „neigen
Justizrat Jul. Lubszynsti.
Das Verbot des „Reigens“ ist nicht von der
Polizei, sondern vom Gericht, und auch nicht
vom Strafgericht, sondern vom Zivil gericht er¬
lassen worden. Das an dem Stück genommene
„sittliche Aergernis“ war nämlich in diesem Fall
ausnahmsweise kein öffentliches, auch kein straf¬
gesetzliches, sondern ein rein persönliches, sozu¬
sagen ein privates und internes des preußischen
Kultusministeriums.
Die Zensur ist im neuen Deutschland bekannt¬
lich abgeschafft. Die Polizei würde daher nur
einschreiten können, wenn etwa durch öffentlichen
Skandal die Sicherheit des Publikums gefährdet
wäre. Diese Besorgnis hat die Polizei nicht ge¬
habt, und die gestrige, ohne jeden Mißton ver¬
laufene Vorstellung hat ihr recht gegeben. Da¬
gegen hat das Kultusministerium als
Vermieterin des Theaters für Reinheit in
einem Hause sorgen zu müssen geglaubt. Die
Hochschule für Musik, in der das Theater gelegen
st, untersteht dem Kultusministerium. In dem
Mietsvertrag ist der Direktion die Verpflichtung
auferlegt, keine Stücke zu spielen, die sittliches
Aergernis erregen. Diese Verpflichtung hat das
Ministerium durch die Aufführung des Reigens
verletzt gesehen und dagegen das Gericht ange¬
rufen. Das Gesetz sieht für die Erzwingung eines
Verbots Geldbuße oder im äußersten Fall Haft
vor. Das Kultusministerium hat den Fall als
o gewichtig angesehen, daß es die strengste
Strafe, die das Gesetz kennt, nämlich
bis 6 Wochen Haft, gegen die beiden Leiter
des Theaters beantragt. Das Gericht hat dem
Antrag stattgegeben.
Das Kultusministerium ist allerdings nicht
selbst als Verfechter der Sittlichkeit vor das Fo¬
rum getreten, sondern hat Herrn Dr. Schrecker
vorgeschickt, der persönlich als Leiter der Hoch¬
schule die Rolle des Klägers übernommen hat.
Das Gericht wird die Aktivlegitimation nachzu¬
prüfen haben.
Die Direktion hat unbekümmert um das Ver¬
bot die Aufführung vorgenommen. Was erwartet
nun die Deliquenten? Da ein öffentliches Inter¬
esse nicht verletzt ist, hat auch das Gericht von
Amtswegen nicht einzuschreiten. Vielmehr muß
es dem Kläger überlassen bleiben, oh
er jetzt die angedrohte Haftstrafe beantragen will.
Hierüber muß in mündlicher Verhandlung ent¬
schieden werden. Voraussetzung wäre, daß
1. das Verbot alsdann noch zu Recht be¬
steht;
Paris, 24. Dezember.
Die Lage des Ministeriums Leygnes gestoltet
sich immer schwieriger. Die Rede des ehe¬
maligen Kriegsministers Lesevre in der gestri¬
gen Kammersitzung hat gleichfalls dazu beigetra¬
gen. Sie beunruhigte in ihrer pessimistischen
Tendenz die Mehrheit der Kammer heftig. Da
in gutunterrichteten Kreisen die Resultate der
Brüsseler Konferenz pessimistisch
beurteilt werden und sich diese Neuigkeit gestern
in Kammerkreisen verbreitet hat, büßte jedoch die
Rede Lefovres sehr an augenblicklichem Eindruck
ein. Troßdem erwartet man wie wirklicher Un¬
ruhe die Fortsetzung der Debatte über das letzte
Budgetzwölftel, die heute nachmittag stattfinden
Vor allem soll der Ministerpräsi¬
oll.
dent eine Rede halten, die sozusagen die Ant¬
ort auf die Rede Lestores darstellen und die
Kammer über die Entwaffnung Deutsch¬
lands beruhigen soll.
Die Londoner Rede Lloyd Georges hat,
soweit dies möglich ist, die ministerielle Lage des
Kabinetts Leygnes noch mehr geschwächt. Lloyd
George hat sich klar und deutlich für die
Gültigkeit des Vertrages von
Seores ausgesprochen. Die Abendzeitungen,
z. B. der „Temps“ erörtern mit Schärfe diese
Rede Lloyd Georges. Das Journal des Debats,
die Liberté und der Intrausigeant stellen das
durch diese Debatte hervorgerufene Unbehagen
unzweideutig fest.
Noch immer Furcht vor Deutschland.
Paris, 23. Dezember.
In der französischen Kammer sprach heute der
abgegangene Kriegsminister André
Lefsbre über die Gründe seines Rücktritts.
Angesichts der finanziellen Lage dürfe man nicht
zugeben, daß man Deutschland für den
Wiederaufbau der befreiten Gebiete und für die
Zahlung der Pensionen Geld vorschieße. Man
leihe Deutschland Geld zu 5 Prozent, wofür man
selber 6 Prozent zahlen müsse. Frankreich sei
also der Bankier Deutschlands. Er stelle des¬
halb die Frage,
ob Frankreich Sieger sei?
Die Kammer habe den Vertrag, den sie an¬
genommen habe und den er bekämpfe, verurteilt.
Er bedauere, daß der Ministerpräsident gesagt
habe, Frankreich dürfe nicht des Imperialismus
bezichtigt werden. Sei das Imperialis¬
mus, wenn man Elsaß und Lothringen wieder
zurückverlange und das Mandat in Cilicien aus¬
führe? (Abg. Cachin ruft dazwischen: Ja, das ist
Imperialismus!) Wenn Frankreich für seine
Sicherheit sorge, dann dürften sich Italien und
England nicht wundern. England habe auch
860000 Mann und 180 000 Matrofen unter den
Waffen. Frankreich halte
die Wacht am Rhein,
wie die Gallier vor 2000 Jahren. Man dürfe
nicht mit dem Schicksal des „armen Deutschland“
Mitleid hoben. Warum verlange man nicht von
Deutschland die Summe, die es bezahlen könne?
Wenn Deutschland bereit sei, seine Fehler einzu¬
wieder anzusangen, dann könne man sich leicht mit
seiner Entwaffnung zufriedengeben. Frankreich
nüsse genügende militärische Mittel besitzen,
um die
tschechoslowakische, die polnische und die
rumänische Mauer,
die den Germanismus verhindere, sich mit dem
Bolschewismus zu verbinden, aufrechtzuerhalten.
immer bedenken, daß 60 Millionen Deutsche und
80 Millionen Russen sich gegen den Osten nach
Indien und gegen den Westen noch dem Rhein
denden könnten. Im Monat August hätten in
Ostpreußen 70000 Deutsche unter den verschie¬
densten Bezeichnungen gestanden. Sie hätten
bewehr bei Fuß gestanden, um Polen in der
flanke anzugreifen. (!) Im Jahre 1871 würde
Bismarck nicht die Reden gestattet haben, die die
deutschen Minister jüngst im Rheinland gehalten
haben.
Bildung einer neuen Mehrheit.
Drahtung der F. 3.
Genf, 24. Dezember.
Die nächste Folge der Ereignisse in der vor¬
gestrigen Kammersitzung wird voraussichtlich der
ücktritt des Ministeriume Ley¬
gues sein. Da es gegenüber dem Parlament
nicht mehr die nötige Autorität besitzt, kann es in
der gegenwärtigen ernsten Lage die unbestrittene
Leitung der inneren und äußeren Politik des
Landes nicht weiterführen. Da das Budgetfahr
in Frankreich am 31. Dezember endigt, und das
Budget für 1921 noch in der Kommission steckt,
so würde eine Kabinettskrise die recht¬
zeitige Einigung der Kommer und des Senats
über das provisorische Steuerzwölftel für Januar
und Februar fast unmöglich machen; andererseits
haben die Parteien selbst ein Interesse daran, sich
über die Bildung einer neuen Mehrheit
inter sich zu verständigen.
Es ist wahrscheinlich, daß dem Ministerium
eine kurze Schonzeit gewährt wird, #d
daß es bis zu Beginn der ordentlichen P##a¬
mentssession am 11. Januar die Geschäfte fort¬
führen wird, um sich dann im gegebenen Augen¬
blick freiwillig zurückzuzieh en. Unter¬
dessen wird der Präsident der Republik sich nach
einem Neuen Ministerpräsidenten umsehen. Viel¬
eicht wird er an den vielgenannten Persönlich¬
keiten Poincaré, Briand und Barthou
vorübergehen und Viviani berufen, aber die
Schwierigkeiten dürften damit nicht gelöst sein.
Seit vorgestern ist der Kampf zwischen der
Rechten und der Linken in der Kammer eröffnet.
Die Linke= die seit den Wahlen im Jahre 1919
entmutigt war, hat wieder Selbstvertrauen ge¬
wonnen.
Eisenbahnerstreik in Bagern?
Eigene Drahtung.
München, 23. Dezember.
Im Zusammenhang mit der Unruhe in den
Kreisen nord= und mitteldeutscher Eisen¬
bahner steht nach der Meldung hiesiger Blätter
auch in Bayern eine Abstimmung über
den Streik vor der Türe. Die Lokomotiv¬
führer sollen bereits mit weit überwiegender
Mehrheit sich für die „Arbeitseinstellung ausge¬
sprochen haben. Die Abstimmung fand durch
Stimmzettel mit Namensunterschrift statt. Der
Streik soll unter dem Schlagwort einer „Anstre¬
bung des Existenzminimums“ erklärt werden.
Wiener Anschluß-Schritte.
Drahtung der T. U.
Wien, 24. Dezember.
Ein Kabinettsrat wird sich heute mit
den Schritten der Regierung wegen Beseiti¬
gung des Anschlußverbotes an Deutsch¬
land befassen.
darunter der Staatssekretär des Auswärtigen
Amts, Herr von Haniel, der Staatssekretär
des Reichskanzlei, Dr. Albert, und bekannte
Größen der Finanz= und Handelswelt, wie Maz
Warburg, Walter Rathenau und andere,
m ganzen etwa zwölf bis fünfzehn Herren.
Heute vormittag hat Me. Cormick, der sich
über die Verhältnisse in Deutschland unterrichten
will, in seiner Wohnung im Hotel Adlon die Be¬
prechungen mit führenden Männern unserer
Wirtschaft fortgesetzt. Me. Cormick, ein persön¬
licher und politischer Freund des neuen Präsiden¬
ter Harding, tritt in diesen Unterhaltungen
durchaus als Privatmann auf und wird diese
Zurückhaltung insbesondere auch dadurch kund¬
tun, daß er jede öffentliche Aeußerung über Po¬
litik und schäfte vermeiden wird. Den Weih¬
nachtsabend wird Me. Cormick im Kreise der
nmerikanischen Mission verbringen.
Das vervot des „neigen
Justizrat Jul. Lubszynsti.
Das Verbot des „Reigens“ ist nicht von der
Polizei, sondern vom Gericht, und auch nicht
vom Strafgericht, sondern vom Zivil gericht er¬
lassen worden. Das an dem Stück genommene
„sittliche Aergernis“ war nämlich in diesem Fall
ausnahmsweise kein öffentliches, auch kein straf¬
gesetzliches, sondern ein rein persönliches, sozu¬
sagen ein privates und internes des preußischen
Kultusministeriums.
Die Zensur ist im neuen Deutschland bekannt¬
lich abgeschafft. Die Polizei würde daher nur
einschreiten können, wenn etwa durch öffentlichen
Skandal die Sicherheit des Publikums gefährdet
wäre. Diese Besorgnis hat die Polizei nicht ge¬
habt, und die gestrige, ohne jeden Mißton ver¬
laufene Vorstellung hat ihr recht gegeben. Da¬
gegen hat das Kultusministerium als
Vermieterin des Theaters für Reinheit in
einem Hause sorgen zu müssen geglaubt. Die
Hochschule für Musik, in der das Theater gelegen
st, untersteht dem Kultusministerium. In dem
Mietsvertrag ist der Direktion die Verpflichtung
auferlegt, keine Stücke zu spielen, die sittliches
Aergernis erregen. Diese Verpflichtung hat das
Ministerium durch die Aufführung des Reigens
verletzt gesehen und dagegen das Gericht ange¬
rufen. Das Gesetz sieht für die Erzwingung eines
Verbots Geldbuße oder im äußersten Fall Haft
vor. Das Kultusministerium hat den Fall als
o gewichtig angesehen, daß es die strengste
Strafe, die das Gesetz kennt, nämlich
bis 6 Wochen Haft, gegen die beiden Leiter
des Theaters beantragt. Das Gericht hat dem
Antrag stattgegeben.
Das Kultusministerium ist allerdings nicht
selbst als Verfechter der Sittlichkeit vor das Fo¬
rum getreten, sondern hat Herrn Dr. Schrecker
vorgeschickt, der persönlich als Leiter der Hoch¬
schule die Rolle des Klägers übernommen hat.
Das Gericht wird die Aktivlegitimation nachzu¬
prüfen haben.
Die Direktion hat unbekümmert um das Ver¬
bot die Aufführung vorgenommen. Was erwartet
nun die Deliquenten? Da ein öffentliches Inter¬
esse nicht verletzt ist, hat auch das Gericht von
Amtswegen nicht einzuschreiten. Vielmehr muß
es dem Kläger überlassen bleiben, oh
er jetzt die angedrohte Haftstrafe beantragen will.
Hierüber muß in mündlicher Verhandlung ent¬
schieden werden. Voraussetzung wäre, daß
1. das Verbot alsdann noch zu Recht be¬
steht;