II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 686

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Reigen
box 18/1
Kiose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
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Zeitung.
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24 97.-00
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Haenisch läßt einsperren
Schnitzlers„Reigen“ im Kleinen Schauspielhaus
Im Kleinen Schauspielhause ist gestern abend Schnitzlers
„Reigen“ unter den erstaunlichsten Umständen gespielt worden.
Das Werk, das vor 20 Jahren erschienen und in etwa 75 000
Exemplaren verbreitet ist, konnte bisher, gegen die Absicht des
Dichters, nicht aufgeführt werden, weil die Polizei es „unsittlich
fand. Inzwischen haben wir aber eine Revokution erlebt, die
zwar die Zensur abgeschafft und dies sogar in der Verfassung
(Artikel 118) festgesetzt hat, die aber auch, ein Unglück kommt
selten allein, Herrn Haenisch direkt von der Bierbank und aus der
Gartenlaube ins Kultusministerium gebracht hat. Und infolge¬
dessen ist es nun erreicht, daß die Polizei nicht mehr die Betten
der Dichter durchschnüffelt, ob dort etwas Verbotenes liegen ge¬
blieben ist, Herr Haenisch aber die Gerichte aufruft, die Auf¬
führung des „Reigen“ zu verbieten, gegen den die Berliner Polizei
vernünftiger Weise nichts mehr einzuwenden hat.
Jeder, der die deutschen Gesetze kennt, wird nun voll Neugier
fragen, wie der Haenisch es fertig gebracht hat, sich vor den Rich¬
tern als berufen zu seiner Verbotsbitte zu legitimieren. Das war
nun nicht so schwer. Gibt es doch nicht nur Richter, sondern auch
Rechtsanwälte und Geheimräte in Berlin. Und die alle zus
sammen knobelten aus, daß das Theater, in dem dieses Schandstück
gespielt werden soll, im Gelände der Staatlichen Musikhochschule
liegt, daß die Musikhochschule dem preußischen Kultusminister
untersteht und daß das Theater einen Pachtvertrag mit der hohen
Behörde geschlossen hat (vor der Revolution), laut dem es keine
Werke aufführen darf, die das religiöse, moralische, sittliche Gefühl
verletzen. (Das monarchische Gefühl ist nicht extra erwähnt, aber
selbstverständlich miteingeschlossen.) So hatte denn das Kultus
ministerium die Möglichkeit, dem Richter zu sagen: Schnitzlers
„Reigen“ ist ein Stück, das aus zehn Szenen besteht. Jede Szene
endet im Liebesbett, nur eine im Ehebett. Die Aufführung dieses
Schmutzstückes stellt einen Vertragsbruch dar (Stürmische,
langanhaltende Heiterkeit), das Gericht hat daher durch einstwei¬
lige Verfügung diesen Vertragsbruch zu verhindern.
Vor Beginn der gestern angesetzten Aufführung trat Gertrud
Eysoldt vor den Vorhang und stellte den Fall kurz dar. Nach ihrer
Ansicht handelt es sich um nichts anderes, als um den Versuch der
Behörde, das Theater herauszuschmeißen und den Saal, der für
Schulzwecke gebraucht wird, freizubekommen. Das Kultus¬
ministerium hat nichts getan, um sich vom Charakter des Stückes
und der Aufführung zu überzeugen. Es hat, trotz wiederholter
Bitte des Theaiers, es nicht der Mühe wert gefunden, eine Probe
oder die Generalprobe zu brsuchen. Es hat dagegen bei Gericht
erreicht, daß die Eysoldt und ihr Mitdirektor für jede Aufführung
es Stückes mit je 6 Wochen Gefängnis bestraft werden sollen,
lso schon für die Erstaufführung mit 12 Wochen.
Hat man eine solche Schamlosigkeit schon erlebt? Die dümmsten
nd eisenstirnigsten Mucker haben mit solchen Mitteln den so¬
enannten „Schmutz“ in der Kunst niemals bekämpft. Das blieb
inem rechtssozialistischen Kultusminister vorbehalten.
Ein einziger Ruf des Unwillens ging durch den Saal. Er ver¬
andelte sich in stürmischen Beifall, als Frau Eysoldt erklärte,
er Vorhang wird heute abend trotzdem in die Höhe gehen.
Der Vorhang ging in die Höhe, es wurde gespielt. Es war
in nach mehreren Szenen starker und reiner Erfolg des Dichters.
die seelische Zartheit des Werkchens wurde durch die Aufführung
berhaupt erst entdeckt, obwohl gerade die Frauenrollen ganz
chwach gespielt wurden.
Schnitzler hat seit gut zehn Jahren nichts mehr von Belang
eschrieben. Der „Neigen“ ist eins seiner besten, sein eigenstes
Verr Es hat nicht seinesgleichen in der deutschen Literatur. Und
s har ein Recht auf die Bühne, auf die es den Liebesakt bringt,
wie Nomeo und Julia“
Malküre
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