II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 692

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Reigen
Mlose & Geidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin HO. 43, Georgenkirchplatz 21

Zeitung
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Orti
Datumis
4—1-910
Theater und Musik.
Kleines Schauspielhaus: Schnitzlers „Reigen“. Also ein
Glück habens schon, die Frau Eysoldt und der Herr Sladek, net
zum sagen! Drei Stunden vor der Aufführung tut ihnen der
Staatsanwalt vom Landgericht III den Gefallen, die Abendvor¬
stellung inhibieren zu wollen. Infolgedessen kann sich Frau
Eysoldt als Märtyrin an die Rampe stellen und eine sehr gefühl¬
volle Nede halten über erotische Kunst, und daß sie Herrn Schnitzler
liebe und für ihn (und die Kunst natürlich!) bereit sei, sechs
Wochen Haft auf sich zu nehmen. Wenn das kein Geschäft wird —!
Nun wußte doch jeder, daß es sich bei diesen zeha Dialogen um
höhere Kunst handelt. Und daß jeder ein Barause ist, der die
„leise erotische Wehmut“ — so sagte die Frau Direktorin am
Schluß — etwa als das empfindet, was sie in Wirklichkeit ist: ein
Stimulanz für Lebegreise, ein Gift für jeden noch nicht gänzlich
Demoralisierten.
Soweit ist alles gut und schön. Aber was soll man von einer
Kollegialität halten, welche dem „Folie Caprice“ solch einen fetten
Bissen vor der Nase wegschnappt. Die sinnige Weihnachtsgabe,
welche das Kleine Schauspielhaus dem Berliner Westen mit dieser
Aufführung bescherte, bedeutet einen schönen Höhepunkt auf dem
Wege zur republikanischen Kunstfreiheit. Es wird schwer fallen,
ihn einstweilen zu überbieten. Sellte das dennoch möglich sein,
so schlage ich in aller Bescheidenheit vor, dieses Creignis vor einem
wirklich sachverständigen Publikum steigen zu lassen. Auf der
Friedrichstraße abends nach zehn wird man es mühelos finden.
Von der Aufführung muß gesagt werden, daß sie erwies, was
jedem Schnitzlerkenner von vornherein klar sein mußte: Der
Reigen ist nicht für die Bühne geschrieben gewesen. Daran konnten
die guten schauspielerischen Leistungen der Damen Bäck, Magda
Mohr Poldi Müller, Blanche Dergau, der Herren Kurt
Götz, Schwanneke Etlinger, Forster=Larinaga
und Ralph nichts ändern. Eine mehr als geschmacklose
Zwischenaktsmusik machte die Wiener Paprika=Limonade nicht er¬
träglicher. Wo nicht als wichtigstes Requisit das Bett auf der
Bühne stand, wirkte die Szenerie unwahr. So namentlich in dem
Praterbild und dem Ausblick nach dem Stefansdom, der hier ein
Blasphemie bedeutete.
Das Kapitel Berliner Bühnenkunst ist um einen betrüblichen
Abschnitt reicher. Man kann nur immer wieder mit Erleichterung
feststellen, daß Berlin nicht Deutschland ist. Sonst müßte man
wahrhaftig an unserer Zukunft verzweifeln!
M. Selt.
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21

Zeitung: Deutsche Allgemeine Ztg.
Berlin
74 DLG
Datum: —
Der verbotene „Reigen“.
Das Kleine Schauspielhaus in der Fasanenstraße hatte
für gestern abend die Erstaufführung von Arthur Schnitzlers
„Reigen“ angekündigt. Mittags wurde ein behördliches Verbot
der Vorstellung mitgeteilt — bei Androhung einer Strafe von
sechs Wochen Haft im Fall der Zuwiderhandlung. Am Abend
hat die Aufführung trotzdem siattgefunden: Frau Eysoldt, die
Leiterin des Theaters, erschien vor dem Vorhang, teilte den
Tatbestand mit und erklärte, daß man trotz des Verbots spielen
wolle.
Polizeiliche Verbote der Aufführung eines Dramas, hinter
denen als Verfasser ein Mann von dem literarischen Ruf
Arthur Schnitzlers steht, haben immer ihr Mißliches.
Hier
iegt die Sache aber doch so, daß sie nicht so ohne weiteres
mit Für oder Wider zu entscheiden ist, selbst ganz abgeselen
davon, daß der Einspruck, zunächst von der Hochschule
für
Musik, der Eigentümerin des Theaters, erhoben worden ist.
Schnitzlers „Reigen“ liegt seit mehr als zwanzig Jahren ge¬
druckt vor: der Dichter selbst hat aber bisher aus einem sehr
richtigen Gefühl heraus jede öffentliche Aufführung des Werkes
untersagt. Szenen, Dialoge vor und nach dem letzten Liebes¬
erlebnis zwischen je zwei Menschen, von denen der eine in der
nächsten Szene mit einem neuen Gegenüber das Thema neu
variiert — sie mögen als Literatur ihren Reiz haben: ihre
Aufführung, im Theater bringt sie aber vor Kreise, die, Hand
aufs Herz, keigeswegs um dieser Qualitäten willen die Vor¬
stellung besuchen. Schnitzler selbst hatte ein ganz richtiges
Empfinden dafür, als er öffentliche Aufführungen bisher
untersagte. Wenn er dies Verbot jetzt zurückgezogen hat, so
ist das menschlich begreiflich aus der drückenden Lage heraus,
in der die Wiener Schriftsteller heute leben. Er wird damit
entlastet, nicht aber das Theater. Denn es gibt viele andere
und bessere Stücke von Schnitzler, die man aufführen konnte
wenn man ihm helfen wollte. Um so mehr, als die Ver¬
bietenden sich hier auf den Verfasser selbst und seine frühere
Haltung berufen können. Es wäre etwas ganz anderes, wenn
es sich um ein wesentliches Hauptwerk eines Schaffenden
handelte, dem mit der Nichtaufführung als Mensch und
Dichter schweres Unrecht, geschähe. Das aber ist hier nicht
der Fall — das Theater hat nur einen Mann, der selbst ge¬
chmackvoll genug war, bisher dieses Werk auf die Wenigen
zu beschränken, in eine peinliche Situation gebracht. Was bei
einiger Ueberlegung und einem starken Verantwortlichkeitsge¬
fühl gegenüber dem Ganzen zu vermeiden gewesen wäre.
Wie wir hören, will die Leitung der Hochschule für Musik
über die Gründe, die sie zu ihrem Einspruch veranlaßt haben,
selbst noch eine Erklärung abgeben.
F.