II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 744

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11. Reigen
Feuillekon¬
„Reigen“-Premiere und
=Affäre.
Von Joseph Roth (Berlin).
Der „Reigen“=Premiere im Kleinen Schau¬
rspielhaus ist eine „Reigen“=Affäre voraus¬
gegangen. Das Kleine Schauspielhaus ist in
der Hochschule für Musik einquartiert. Frau
Eysoldt, die Direktrice, mußte der Leitung der
Musikhochschule versprechen, niemals sittlich
oder religiös anstößige Stücke aufzuführen.
Seit dem Abschluß jenes Mietsvertrages
hatten sich die Anschauungen über Sittlichkeit
und Religiosität so sehr gewandelt, daß auch
anstandslose Stücke von Wedekind anstandslos
aufgeführt wurden. („Büchse der Pandora“ usw.]
Seit einiger Zeit aber herrscht Raummangel in
der Hochschule für Musik und die Leitung suchte
ach einer passenden Gelegenheit, die Räume
zes Kleinen Schauspielhauses freizubekommen.
Es fand sich eine unpassende Gelegenheit. Der
„Reigen war von der Zensur erlaubt worden.
Ausstattung und Proben hatten eine Menge
Geld gekostet. Da erinnerte sich die Leitung
der Musikakademie in letzter Stunde daran, daß
die Räume des Schauspielhauses gebraucht
werden, und sie alarmierte den Zensor, weil
die Alarmierung eines Mietsgerichtes rechtlich
nicht möglich war. Dieser Dreh war schicklal¬
ironisch von Professor Franz Schreker unter¬
zeichnet, dem erotischen Komponisten, dem Lands¬
mann Arthur Schnitzlers, dem verhaßtesten
Musiker, der — o Zivilisation — den Posten
eines Direktors der Akademie der Musik be¬
kleidet und in den Tonlagen der Mietsgesetze
hilflos unterschreiben mußte, was ihm die
Beamten vorlegten.
Daß es keinem anderen als Franz Schreker
passieren mußte, Schulter an Schulter mit dem
Staatsanwalt zu stehen und unter den Künstlern
als der erotisch vielleicht freieste, den Anwalt
für die Prüderie eines beamteten Gehirnkastens
abzugeben, ist tragisch. Verständlich für jeden,
der Musiker kennt, und infolgedessen die Tat¬
sache bedauert, daß berühmte Komponisten
Schuldirektoren werden müssen, um leben zu
können. Wer dieses versteht, findet selbst das
verzeihlich, daß Franz Schreker in seinen Zu¬
chriften an die Berliner Tagesblätter auf
einem Rechte beharrt und das Unsittliche des
Drehs gar nicht einsieht. Die Schuld fällt auf
jene, die aus einem Komponisten, einem Gottes¬
organ, ein Amtsorgan gemacht haben.
Es kam wirklich zwei Stunden vor der
Premiere zum Verbot der Auf ührung. Frau
Eysoldt wurden sechs Wochen Haft angedroht.
Nichtsdestoweniger beschloß sie, die Aufführung
doch stattfinden zu lassen. Im Namen der Kunst
und des Geschäftes. Das erstere gestand sie in
iner Ansprache an das Publikum vor Aufgehen
des Vorhanges, das letztere verschwieg sie. Und
das war der Dreh der Eysoldt.
Schlimmer als die Tartuffes sind die
Justament=Antitartuffes. Gefährlicher als die
Prüderie ist die Freiheit aus Angst vor der
Prüderie. Erotik ist ein Gebiet der Kunst wie
lles Gebiet der Kunst ist. Die Erotik in den
Werken Wedekinds ist so vital, so Grundbestand¬
eil des Wesens des Wedekindschen Lebens¬
verkes, daß der Dichter niemals anstößig
virken kann, weil der sittlich pathetische Ernst
die Erotik fast wissenschaftlich fundamentiert.
Bei Schnitzler ist die Erotik eine menschliche
Lächerlichkeit. Bei Wedekind eine tragische
Menschlichkeit. Wedekind zergrübelt das Problem,
Schnitzler lächelt im besten Falle bitter darüber.
Bei Wedekind ist die Erotik ein Problem, bei
Schnitzler eine Frage. Daher schrieb Wedekind
„Die Büchse der Pandora“, Schnitzler den
„Reigen“.
Kein Zweifel, daß sich die Direktion des
Kleinen Schauspielhauses über das gute Ge¬
chäft, das mit dem „Reigen“ zu machen war
im klaren ist. Daß die Leute in die Vorstellung
gehen würden, weil sie sexuelle Intimitäten,
as heißt die Gebankenstriche, die sie in
Schnitzlers Buch gelesen hatten, hinter einem
Vorhang würden ahnen können, stand fest. Nicht,
daß sie hingehen würden, um erotische Probleme
behandelt zu sehen. Zu Wedekind gingen sie, weil
sie ihn nicht verstanden. Zu Schnitzler gehen sie,
veil sie ihn verstehen.
Die Staatsanwaltschaft zog erschrocken das
Verbot zurück, machte, weil sie den „Reigen
natürlich nie gelesen hat, stramm Haltung vor
er Kunst, von der sie jetzt nicht mehr weiß, ob
sie mit göttlichen Dingen oder mit Unterleibs¬
wäsche zu tun hat, die Staatsanwaltschaft ver¬
wechselt überhaupt beides, und der „Reigen
vird aufgeführt. Dort, wo die Gedankenstriche
ind, setzt Forster=Larinaga mit einer Musik
ein. Das ist sozusagen eine Erotica. Sie bleicht
ventuelle Schamröten, verschluckt Liebes¬
geräusche und will das Publikum glauben
machen, daß ein feiner ironischer Witz eine
osmische Angelegenheit ist. Das heißt, die
Musik soll dem Schnitzler helfen, wedekindisch
zu erscheinen. Aber es hilft nichts. In der Szene
zwischen dem Grafen und der Schauspielerin
fällt die Musik aus dem kosmischen in einen
kosmetischen Radetzkymarsch. Da macht Forster¬
Larinaga einen schnitzleronischen Witz. Das
Publikum, das bei den ersten Szenen kühl bleibt,
trotz Duster, Aufmachung und übersinnlichem
Parfum, unterhält sich erst bei den letzten
Szenen, die etwas länger geraten sind und in
denen nette Witze gemacht werden. Und geht
ann nach Hause, nicht trunken und nicht respekt¬
voll vor Unverständlichem wie bei Wedekind,
sondern amüsiert und angeregt.
Hubert Rausch führte Regie. Er gestaltete
ein Ansichtskarten=Wien. Weniger wäre besser
gewesen. Hervorragend gut war Ettlinger als
Dichter. Himmelblau verschmockt, instinktiv¬
gescheit, Frauenverführer ohne persönliches
Verdienst, tänzelnd über Ernst und Lächerlich¬
keit, Herrscher jeder Situation, unmündig und
nutterwitzig. Eine Art tapferes Dichterlein.
Die Kritik fiel samt und sonders samt Kerr
und sonders Leo Rein dem Staatsanwalt und
er Frau Eysoldt herein. Sie machten groß in
Antitartufferie. Sie schrien Pfui dem Staats¬
uwalt und Hoch Frau Eysoldt. Sie vergassen
das Geschäft und ließen die Erotik leben.
Und Schnitzler selbst, der den „Reigen“
für seinen engsten Freundeskreis geschrieben
hatte, hätte sich das doch niemals vorgestellt.