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Sobald die Unergiebigkeit des Nachwuchses in die Vergangenheit
der Dramatik zurücktrieb, kam eines Tages auch Schnitzler wieder
dran. Was von ihm? „Reigen“? Nach Aufhebung der Zensur war
die Oeffnung dieses gabinetto secreto schließlich nur eine Frage der
Zeit, nach der eiwas zu großen. Selbstverständlich, daß der Spezialist
für das Sonmiertheatergeschält Herr Sladek sich ganz energisch verbeten
hätte, dabei irgendeiner künstlerischen Absicht geziehen zu werden.
Sein Wintergeschält umrauschte der Pleitegeier in engen und täglich
engern Kreisen. Schönherr war durchgefallen, Bahr hatte kläglich ver¬
sagt: half der dritte Oesterreicher nicht, so wurden die Stühle ver¬
steigert. Aber die Probe ist leider nicht angestellt worden. Die Be¬
hörde lieh ihre Unterstützung mit einem Erfolg, daß ihr die dickste
Provision gebührte. Nie hat sich eine Behörde dümmer und unge¬
schickter erwiesen, Sie wollte das Kleine Schauspielhaus aus der
Hochschule für Musik hinausschikanieren: und hat ihm eine Reklame
gemacht, daß es bis zum Ablauf des Vertrages jeden Abend ausverkauft
sein wird. Als ich zur siebenhundertsten Aufführung strömite, waren
Hardenberg- und Fasanen-Straße wegen Lebensgefährlichkeit reif für
die Absperrung. An der Kasse wogte der Abschaum der berlinischen
Menschheit, dem mit Netzen die blauen Lappen entschopft wurden. Ge¬
sichter, wie ich noch keine sah; Geistlosigkeitt. ausgespien aus der
Hölle; Kostüme, die ihren Trägerinnen ermöglicht hätten, in dem
einen entscheidenden Moment jeder Szene ohne Gage und ohne sonder¬
liche Veränderung an der Toilette mitzuspielen. Ich war hoch und
heilig entschlossen, das sattsam bekannte öffentliche Aergernis keines¬
wegs ungenommten zu lassen. Aber es ging nicht. Wie auf der Bühne
geschah, was nach Schnitzlers Geheiß zu geschehen hat, gab einer
natürlichen Verrichtung ihre Unschuld zurück, selbst wenn eine wider¬
natürlich talentlose Schauspielkunst sich hindernd dazwischenklemmte.
Da vor keuschen Augen garnicht gezeigt wird, was keusche Herzen
nicht entbehren können, sö fragt sich allenfalls, auf welche Weise die
völlig ahnungslosen Gemüter, die noch nicht hinter den Vorhang ge¬
blickt haben, und die eben deshalb die Behörde schützen zu müssen
behauptet, die hier emplangene Anregung praktisch verwerten werden.
Die Mädchen haben zehnmal überaus verwundert bemerkt, wie ekelhaft
die zärtlichen Knaben „hinterher“ sind, und verzichten entweder auf
die Kontrolle: dann hat die rührend fürsorgliche Behörde eher zur
Förderung als zur Schädigung des Unternehmens Anlaß; oder sie
trauen sich zu, ihren Enaben in geringere tristitia zu versetzen: dann
wird sie zu solcher Prüfung ihrer Kräfte ein Sonnnerabend oder das
erstbeste heiße Buch genau so leicht verfühfen wie diese Theatervor¬
stellung. Die Knaben? Ihnen droht einzig, daß sie für eine Situation,
in die sie heut oder morgen unfehlbar konnnen werden, ein bißchen
bessere Manieren lernen. Und die erwachsenen Kunden des Theaters
bedürfen der Bevormundung nicht. Den meisten verstellt überall in
der Kunst der Stoff die Aussicht auf die Form — soll das etwa eine
Zensur aus der schlechtesten aller Welten schaffen? Wer aber Form
zu würdigen weiß, der wird an Scimitzlers melancholisthem Witz seine
Freude haben und von der Trzuer dieses unleidenschaftlich ironischen
Gehirns um die Centaurenhaftigkeit des Menschen zu innig berührt
werden, als daß er auf ein Niveau herunterzusteigen vermöchte, wo er¬
wogen wird, was in den Bereich der dichterischen Gestaltung und auf
eine Bühne von heute taugt.
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Sobald die Unergiebigkeit des Nachwuchses in die Vergangenheit
der Dramatik zurücktrieb, kam eines Tages auch Schnitzler wieder
dran. Was von ihm? „Reigen“? Nach Aufhebung der Zensur war
die Oeffnung dieses gabinetto secreto schließlich nur eine Frage der
Zeit, nach der eiwas zu großen. Selbstverständlich, daß der Spezialist
für das Sonmiertheatergeschält Herr Sladek sich ganz energisch verbeten
hätte, dabei irgendeiner künstlerischen Absicht geziehen zu werden.
Sein Wintergeschält umrauschte der Pleitegeier in engen und täglich
engern Kreisen. Schönherr war durchgefallen, Bahr hatte kläglich ver¬
sagt: half der dritte Oesterreicher nicht, so wurden die Stühle ver¬
steigert. Aber die Probe ist leider nicht angestellt worden. Die Be¬
hörde lieh ihre Unterstützung mit einem Erfolg, daß ihr die dickste
Provision gebührte. Nie hat sich eine Behörde dümmer und unge¬
schickter erwiesen, Sie wollte das Kleine Schauspielhaus aus der
Hochschule für Musik hinausschikanieren: und hat ihm eine Reklame
gemacht, daß es bis zum Ablauf des Vertrages jeden Abend ausverkauft
sein wird. Als ich zur siebenhundertsten Aufführung strömite, waren
Hardenberg- und Fasanen-Straße wegen Lebensgefährlichkeit reif für
die Absperrung. An der Kasse wogte der Abschaum der berlinischen
Menschheit, dem mit Netzen die blauen Lappen entschopft wurden. Ge¬
sichter, wie ich noch keine sah; Geistlosigkeitt. ausgespien aus der
Hölle; Kostüme, die ihren Trägerinnen ermöglicht hätten, in dem
einen entscheidenden Moment jeder Szene ohne Gage und ohne sonder¬
liche Veränderung an der Toilette mitzuspielen. Ich war hoch und
heilig entschlossen, das sattsam bekannte öffentliche Aergernis keines¬
wegs ungenommten zu lassen. Aber es ging nicht. Wie auf der Bühne
geschah, was nach Schnitzlers Geheiß zu geschehen hat, gab einer
natürlichen Verrichtung ihre Unschuld zurück, selbst wenn eine wider¬
natürlich talentlose Schauspielkunst sich hindernd dazwischenklemmte.
Da vor keuschen Augen garnicht gezeigt wird, was keusche Herzen
nicht entbehren können, sö fragt sich allenfalls, auf welche Weise die
völlig ahnungslosen Gemüter, die noch nicht hinter den Vorhang ge¬
blickt haben, und die eben deshalb die Behörde schützen zu müssen
behauptet, die hier emplangene Anregung praktisch verwerten werden.
Die Mädchen haben zehnmal überaus verwundert bemerkt, wie ekelhaft
die zärtlichen Knaben „hinterher“ sind, und verzichten entweder auf
die Kontrolle: dann hat die rührend fürsorgliche Behörde eher zur
Förderung als zur Schädigung des Unternehmens Anlaß; oder sie
trauen sich zu, ihren Enaben in geringere tristitia zu versetzen: dann
wird sie zu solcher Prüfung ihrer Kräfte ein Sonnnerabend oder das
erstbeste heiße Buch genau so leicht verfühfen wie diese Theatervor¬
stellung. Die Knaben? Ihnen droht einzig, daß sie für eine Situation,
in die sie heut oder morgen unfehlbar konnnen werden, ein bißchen
bessere Manieren lernen. Und die erwachsenen Kunden des Theaters
bedürfen der Bevormundung nicht. Den meisten verstellt überall in
der Kunst der Stoff die Aussicht auf die Form — soll das etwa eine
Zensur aus der schlechtesten aller Welten schaffen? Wer aber Form
zu würdigen weiß, der wird an Scimitzlers melancholisthem Witz seine
Freude haben und von der Trzuer dieses unleidenschaftlich ironischen
Gehirns um die Centaurenhaftigkeit des Menschen zu innig berührt
werden, als daß er auf ein Niveau herunterzusteigen vermöchte, wo er¬
wogen wird, was in den Bereich der dichterischen Gestaltung und auf
eine Bühne von heute taugt.
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